So habe ich es mir nicht vorgestellt
trocken.
Mit nachdenklicher Stimme sagte er zum tausendsten Mal: »Wir haben eine Tochter, die bald zum Militär kommt, zum Vorbereitungslager, hättest du dir das gedacht?« Seine Hand glitt über ihren Arm, und die Haut wurde ruhig.
Weil er morgen zum Reservedienst mußte, lohnte es sich überhaupt nicht, darüber nachzudenken. Wenn sie ihn jetzt bitten würde, sie in die Klinik zu fahren, wegen dieses Mädchens, würde er antworten: »Warum hat das nicht Zeit bis morgen früh?« Mit Recht. Er wäre auch beleidigt, weil sie auf einen gemütlichen Abend zu Hause verzichtete. Sie konnte es nicht tun. Es war verboten. Sie mußte sich beherrschen und bis zum Morgen warten. Wenn man auf seinen Nächsten Rücksicht nimmt, wenn man wirklich an ihn denkt, wenn man seine Gedankengänge genau kennt – wieviel Platz bleibt dann noch für Offenheit? Sie mußte sich nicht wegen dieses Mannes im Auto strafen, sie konnte sich mit dem Leiden an der tagtäglichen Erfahrung begnügen, daß man nicht tun durfte, was man wollte. Und vielleicht ist das ja Liebe. Aber wenn man es so betrachtete, war alles, was von einem gemeinsamen Leben blieb, eine fortdauernde Ordnung. Ein geheimer Vertrag, Ruhe zu bewahren. Ein Abkommen über gegenseitiges Verzichten, wie ihre Mutter behauptete. Sie sprach nicht über das Ersticken, sie kam nur bis zum Verzichten. »Vielleicht fährst du schnell mit mir zum Krankenhaus, damit ich mir die Befunde aus dem Computer holen kann?«
»Jetzt?«
»War nur so eine Idee.«
»Kann das nicht bis morgen früh warten?«
»Man kann mich sowieso jederzeit rufen, jetzt oder in der Nacht.«
»Man könnte darauf wetten, daß du gerufen wirst, Jo’ela!« Seine Lippen schürzten sich, seine Mundwinkel wurden straff. »Ich fahre morgen für einen ganzen Monat weg!«
Sie schwieg und senkte die Lider, um ihren Kummer zu verbergen. Es war klar, wenn sie jetzt mit einer Abrechnung anfing (»Hält dich etwa jemand zurück, wenn du mitten in der Nacht noch einmal in die Firma willst, weil dir ein neuer Winkel für die Säge eingefallen ist?«), würde der ohnehin schwelende Streit ausbrechen. Jetzt war es nötig, alles in Ordnung zu bringen. Sie mußte den Wunsch, sofort in die Klinik zu fahren, unterdrücken. Zurückdrängen. Er sollte mit leichtem Herzen zum Reservedienst einrücken können, ohne Streit. Sie mußte ihre Bedürfnisse beiseite schieben, auch wenn es ihr schwerfiel.
»Bring mich in mein Bett«, murmelte Ja’ir. »Mein Bär ist ganz allein dort.«
Arnon hob ihn hoch und war sofort wieder da. Er stand in der Schlafzimmertür und betrachtete sie, und sie betrachtete die blauen Streifen im Vorhang, die vom Wind gewellt wurden.
Es war Arnon, der seinen Familiennamen herausbekommen hatte – dadurch kann man mit dem Strafgesetz in Schwierigkeiten kommen, hatte Jo’ela gewarnt, man verschafft sich nicht unter falschen Angaben irgendwelche Informationen. Er war es auch, der an ihrer Stelle die Telefonistin in der Zentrale des Fernsehens angebrüllt hatte, als sich herausstellte, daß sie private Telefonnummern nicht weitergaben, zumal in den Unterlagen angegeben war, daß es sich um eine Geheimnummer handelte. »Was haben wir mit einem Menschen zu tun, der eine Geheimnummer hat?« Ihr blieb nichts anderes übrig, als zu warten, daß er anrief.
Nun konnte sie wirklich nicht wissen, ob sie darauf wartete, ihn wegen des Mädchens wiederzutreffen oder auch wegen sich selbst.
Sie wurde um drei Uhr morgens geweckt. Sofort nach dem ersten Klingeln nahm sie den Hörer ab und sagte wach und entschlossen: »Ja.« Für einen Moment war das Mädchen verschwunden und auch der Mann. Vorsichtig schob sie Arnons Bein von ihrem und setzte sich auf den Bettrand, um zu hören, daß Alisa Mu’alem angekommen war und darum gebeten hatte, sie zu rufen. »Sie hat noch mindestens zwei Wochen, ich habe sie erst vorgestern gesehen«, widersprach Jo’ela der Hebamme. Doch sie schlang bereits die Haare zu einem Knoten. »Sie ist vor zwei Stunden gekommen, mit einem zu fünfzig Prozent verstrichenen Gebärmutterhals und einer Muttermundsöffnung von drei Zentimetern, und jetzt sind es vier Zentimeter, und der Gebärmutterhals ist ganz verstrichen.« Das Echo der Zischlaute schien noch aus der Hörmuschel zu dringen, als die Hebamme ihren Bericht bereits abgeschlossen hatte. Sie hatte einen starken holländischen Akzent, der weder so war wie der deutsche noch wie der schweizerische. Ihre Rachenlaute klangen sehr trocken,
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