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So habe ich es mir nicht vorgestellt

So habe ich es mir nicht vorgestellt

Titel: So habe ich es mir nicht vorgestellt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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erlauben, sich um jeden einzelnen zu kümmern. Weißt du, wie viele Geburten wir heute nacht hatten, bis du gekommen bist? Mit der Frau, die der Diensthabende gerade operiert, sind es schon zwölf, und ich hatte noch nicht mal Zeit, die beiden hier aufzunehmen.«
    Der Mann blickte Mirjam und Jo’ela an, bewegte den Kopf demonstrativ von einer zur anderen, machte den Mund auf und setzte sich auf den Boden.
    »Komm was essen, bevor ich dich untersuche«, sagte Jo’ela.
    »Man darf nichts essen«, sagte der Mann und legte die Arme um die Knie. »Essen – nein!« Er zerrte an Jo’elas Kittelzipfel, so daß sie fast den Boden unter den Füßen verlor. »Nein!« schrie er. »Man darf nichts essen, bevor sie ihn herausholen.«
    Jo’ela ignorierte das Summen in ihren Ohren und hielt sich die Hände fest, die angefangen hatten zu zittern.
    »Nachher machen wir dir einen Einlauf«, versprach sie, »das macht überhaupt nichts.«
    Der Mann schüttelte den Kopf, warf ihr von der Seite einen schlauen Blick zu und blieb sitzen. Aus den Augenwinkeln nahm Jo’ela Mirjam wahr, die ihr breites Gesicht von einer Seite zur anderen bewegte, so daß ihr Doppelkinn zitterte und die grünen Glockenklöppel an ihren Zigeunerohrringen bei jeder Bewegung klirrten.
    »Nur etwas Flüssiges«, erklärte Jo’ela und schob die Hände in die Kitteltaschen, »wie alle Kreißenden.«
    Der Mann warf ihr einen langen, mißtrauischen Blick zu, dann stand er auf. In diesem Moment war der Summer zu hören. »Ja?« fragte Mirjam. Ihr Gesicht entspannte sich, als sie verkündete: »Gott sei Dank, es ist Meir, der Pfleger. Jetzt können wir wenigstens wieder unsere Arbeit tun.«
    Hinter dem Rücken des Pflegers tauchte das Gesicht der Frau aus dem Wartezimmer auf. Der Goldzahn in ihrem Mund blitzte. Sie versuchte, sich zwischen Meir und dem Türpfosten hindurchzuzwängen, aber Mirjam hinderte sie daran. »Ja? Wohin möchten Sie?« fragte sie und ging auf die Frau zu.
    Die Frau blieb erschrocken stehen. »Meine Schwiegertochter … Ich möchte nur wissen, ob das Kind schon da ist.«
    »Wir werden Ihnen Bescheid sagen«, unterbrach sie Mirjam. »Hier dürfen Sie jetzt nicht herein. Wir werden Sie rufen.«
    »Aber hat sie das Kind schon bekommen oder nicht?« beharrte die Frau.
    »Wie ist der Name?«
    »Gottlieb.«
    »Das Kind ist noch nicht da«, sagte Mirjam, griff nach der Tür und wartete, bis die Frau hinausging. Sie lief langsam, mit schlurfenden Schritten, als habe sie Hausschuhe an, die sie zu verlieren fürchtete, und demonstrierte damit ihren unterwürfigen Protest. Mirjam blickte ihr kurz nach, dann schlug sie die Tür zu.
    Es war das erste Mal, daß Jo’ela Meir, den Pfleger, von Angesicht zu Angesicht sah. Bisher hatte sie nur von ihm gehört. Man sagte, er sei ein Zauberer, und diskutierte darüber, wie viele Menschen er schon in letzter Minute vor dem Selbstmord gerettet habe, nachdem alle anderen bereits aufgegeben hatten. Man sagte, er sei in der Lage, psychisch Kranke, die aus einer geschlossenen Abteilung geflohen waren, ohne Drohungen und ohne Gewaltanwendung zurückzubringen. In Notfällen wurde immer nach Meir gerufen, auch von anderen Stationen, sei es, daß jemand die Beherrschung verlor oder einer aggressiv wurde, so wie damals, als ein Patient einen plastischen Chirurgen, den er beschuldigte, sein Gesicht völlig entstellt zu haben, mit einem langen Messer angriff. Alle in der Klinik hatten damals nur davon geredet, auf welche Art Meir dem Mann das Messer aus der Hand nahm, wirklich in letzter Minute und ohne Gewalt. Porat, der Kassenarzt für Gynäkologie, hatte Jo’ela erzählt, wie Meir einmal eine potentielle Selbstmörderin dazu gebracht hatte, von dem Strommast herunterzukommen, auf den sie geklettert war. »Er hat von unten nur leise auf sie eingeredet, und sie ist einfach runtergestiegen. Die Feuerwehrleute haben es nicht geschafft, ihr Psychiater hat nichts erreicht, aber Meir, der Pfleger, hat es geschafft, so ein kleiner Mann, den du auf der Straße nicht zweimal anschauen würdest, einer, der aussieht wie ein Schuhverkäufer.« (»Als ich das letzte Mal Schuhe gekauft habe, war der Verkäufer knapp zwanzig und bildschön«, hatte Jo’ela widersprochen. »Gut, also kein Schuhverkäufer, einfach ein Straßenhändler auf dem Markt, ein Synagogenvorsteher, eben ein mickriger Mann mit Brille, dem Gesicht eines kleinen Angestellten, warum machst du es so kompliziert, ich will dir doch bloß eine Geschichte erzählen!«

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