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So habe ich es mir nicht vorgestellt

So habe ich es mir nicht vorgestellt

Titel: So habe ich es mir nicht vorgestellt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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hatte Porat protestiert. »Nur damit du weißt, daß du keinen Arzt rufen sollst, wenn dir mal eine Patientin plötzlich durchdreht, sondern sofort Meir, den Pfleger.«)
    Jo’ela wollte genau beobachten, wie der Mann arbeitete. Frau Mu’alem konnte warten, auch die mädchenhafte Schwangere mit dem runden Gesicht konnte warten. Jo’ela wollte Meirs Methode analysieren. Wenn er jeden zurückbringen konnte, gelang es ihm vielleicht auch, das junge Mädchen zu ihr zu bringen. Sie wagte nicht, sich direkt neben ihn zu stellen, denn etwas an seinem weder dicken noch dünnen, weder großen noch kleinen, sondern ganz und gar durchschnittlichen Körper schien einen gewissen Abstand zu verlangen, als wäre ein Zauberkreis um ihn und den Patienten, der sich für eine Frau hielt. Trotz aller Anstrengung konnte sie nicht alles verstehen, was Meir, der Pfleger, sagte – Mirjam telefonierte mit lauter Stimme –, aber ihr fiel auf, wie melodisch seine Stimme klang, als er dem Patienten etwas ins Ohr flüsterte. Meir lächelte, sein Gesicht wurde weich und leuchtend, ganz ohne Angst und Ekel vor dem aufdringlichen weißen Bauch des Mannes. Jo’ela hörte die Worte: »Weißt du noch, wie schön …«, doch den Rest verstand sie nicht mehr. Sie sah, wie sich der Körper des Mannes allmählich entspannte. Der Kranke hob seinen Unterkörper an und zog sich die Pyjamahose über das Hemd, wickelte den Krankenhausmorgenrock um seinen Bauch und band sich langsam den Gürtel um die Hüften. Nach einer Weile reagierte er auch auf die ausgestreckte Hand des Pflegers, der ihn überhaupt noch nicht berührt hatte, und ließ sich aufhelfen. Jo’ela betrachtete Meirs schmales Gesicht, die Augen, deren Ausdruck hinter den dicken Brillengläsern nicht zu erkennen war. Sie begriff nicht, worin das Geheimnis seiner Kraft lag. Sogar in diesem Moment verstand sie nicht, was sie sah. Der Pfleger nahm den Kranken ganz zart am Arm, hakte ihn unter und sagte ernst und voller Ehrerbietung: »Alle Achtung, Baruch, wirklich, alle Achtung!«
    »Was haben Sie zu ihm gesagt?« fragte Jo’ela, als sie neben den Pfleger trat. Der Patient ging nun ein paar Schritte voraus, und der Pfleger sagte laut: »Und jetzt werden wir beide etwas in der Cafeteria essen, eine schöne Tasse Kaffee, was, Baruch? Lädst du mich zu einer Tasse Kaffee ein?« Dann wandte er sich zu Jo’ela. »Nichts Besonderes. Ich habe nichts Besonderes zu ihm gesagt.«
    »Die vorigen Male hat es uns Stunden gekostet, und am Schluß ging es nur mit Gewalt …«
    »Mit Gewalt, das ist nie gut«, sagte Meir, und seine Brillengläser funkelten, als er den Kopf senkte und zu Boden schaute. »Man braucht keine Gewalt, wenn der Mensch nicht gefährlich ist. Und Baruch ist nicht gefährlich. Er hat noch nie …«
    »Aber was haben Sie zu ihm gesagt?« beharrte Jo’ela.
    »Ich habe mit ihm gesprochen«, antwortete Meir, hob den Kopf und betrachtete sie über die Brille hinweg, als habe er das Bedürfnis, ihr Gesicht genau zu studieren. »Ich kenne ihn, und ich habe mit ihm gesprochen.«
    »Aber was genau haben Sie gesagt?«
    »Die Wahrheit. Das, was alle wissen. Ich habe ihm erklärt, daß das, was er tut, nicht schön ist, daß es nicht höflich ist gegenüber den Frauen, die hier sitzen. Er ist wirklich ein guter Junge, der Ärmste. Er meint es nicht böse.«
    »Und das ist alles, was Sie gesagt haben?«
    Meir, der Pfleger, betrachtete den Mann, der mit sehr langsamen Schritten vor ihnen ging und jetzt stehenblieb, um zu warten. »Das andere«, sagte er mit klarer Stimme, »geht nur ihn und mich etwas an. Man muß die Privatsphäre der Menschen achten.«
    Jo’ela war verwirrt. »Ich möchte von Ihnen lernen«, erklärte sie. Diese Worte klangen in ihren eigenen Ohren wie eine bedeutungslose Schmeichelei, und so mochten sie wohl auch bei Meir angekommen sein, der das Gewicht von einem Bein auf das andere verlagerte und meinte: »Es gibt Dinge, die kann man nicht lernen. Die muß man fühlen.«
    Auch bei der Geschichte, die Porat erzählt hatte, war der Schlüssel nicht zu erkennen gewesen. Porat hatte den Strommast beschrieben, die Straße, die Autos, die angehalten hatten, die Feuerwehrleute und sogar Meir, den Pfleger, der ein Stück den Mast hochgestiegen war, aber er hatte keinen einzigen Satz wiederholen können, den Meir gesagt hatte, als handle es sich um eine Art Zauberformel. So wie die Menge an Zucker, Salz und Pfeffer, die ihre Mutter für ihre gefilte fisch benötigte. Jo’ela

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