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So habe ich es mir nicht vorgestellt

So habe ich es mir nicht vorgestellt

Titel: So habe ich es mir nicht vorgestellt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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zusammengepreßten Lippen, nicht einmal ein Stöhnen war zu hören. Unter ihrer linken Hand, die sie auf den Bauch der Schwangeren gelegt hatte, fühlte Jo’ela Kontraktionen, mit der rechten berührte sie den Muttermund und wartete auf das Ende der Wehe.
    »Wissen Sie, daß Ihr Muttermund sich zurückzieht?« fragte Jo’ela, um die Frau abzulenken, während sie den Finger gewaltsam in den Muttermund schob.
    Die Schwangere stöhnte, dann fragte sie erschrocken: »Was heißt das?«
    »Nichts.« Jo’ela verzog die Lippen zu einem beruhigenden Lächeln und bedauerte bereits, daß sie diese Bemerkung gemacht hatte. »Es gibt solche und solche, aber das bedeutet nichts.«
    »Kann das die Geburt behindern?« sagte das Mädchen leise. »Hat sie mir deshalb nicht geglaubt und gesagt, das wären keine echten Wehen?«
    »Blödsinn!« erklärte Jo’ela und dehnte den engen Muttermund mit dem Finger.
    Das Mädchen stieß einen lauten Schrei aus.
    »So«, rief Jo’ela mit verhaltenem Siegerstolz. »Bald wird es losgehen.«
    Das Mädchen starrte sie mit aufgerissenen Augen an.
    »Sehen Sie das da?« fragte Jo’ela und hielt ihr den Schleimpfropf hin, der in ihrem Handschuh lag. »Das ist der Pfropf. Wenn der abgegangen ist, kommt das Kind in den nächsten paar Stunden. Langsam, ganz langsam.« Die junge Frau schloß die Augen. »Es wäre vielleicht doch besser, wenn Sie heimgehen und noch ein bißchen schlafen«, schlug Jo’ela vorsichtig vor und betrachtete die Lippen, die sich sofort verzogen und anfingen zu zittern. Das Mädchen atmete tief auf, und ein Strom von Tränen lief aus den Augenwinkeln über die hellen Wangen. Unter Schluchzen stieß sie in abgerissenen Sätzen hervor, sie wolle diese Demütigung nicht noch einmal durchmachen, sie wolle sich nicht vorwerfen lassen, daß sie sich verstelle, »nur weil … nur weil …«
    Jo’ela unterdrückte den Zorn, der plötzlich bei diesem erpresserischen Weinen in ihr aufstieg, sie unterdrückte auch die Bemerkung: »Dann tun Sie keine Dinge, deren Folgen Sie nicht aushalten können«, die ihr bereits auf der Zunge lag. Sie dachte daran, wie oft sie ihre Studenten schon auf die Einsamkeit und die Angst von jungen, alleinstehenden Frauen hingewiesen hatte. Nun stand sie dieser Einsamkeit und Angst gegenüber und schaffte es nicht, Mitleid zu empfinden. Sie wußte, daß sie Wärme ausstrahlen sollte, aber in ihrem Inneren war nun keine Wärme. Und verstellen wollte sie sich nicht. Ohne Umschweife fragte sie die Frau, ob sie nicht verheiratet sei. Diese schüttelte den Kopf. »Schön«, sagte Jo’ela, »und haben Sie keine Mutter? Oder eine Freundin?«
    Die junge Frau flüsterte, unaufhörlich weinend, sie brauche niemanden. Hinter den Worten, hinter den vorgeschobenen Lippen spürte Jo’ela auch das Nichtgesagte, das anklagende: Und allen ist es egal. »Ich bin allein damit«, sagte das Mädchen, »und so will ich es auch haben.«
    »Studentin« stand als Beruf in der Patientenakte. Jo’ela setzte sich auf den Bettrand. »Was studieren Sie?« fragte sie interessiert.
    »Sprachen und Mathematik«, murmelte die junge Frau.
    »Eine interessante Kombination«, bemerkte Jo’ela. Die Frau strich mit ihren kurzen Fingern über das Laken und drehte das Gesicht zum Fenster. Minutenlang saß Jo’ela schweigend da und betrachtete das braune Lederband um den Hals der Frau, an dem ein silberner Anhänger herunterbaumelte bis auf das Kissen. Hinter dem Wandschirm machte sich Monika eifrig am Waschbecken zu schaffen, man hörte das Wasser laufen. Die Araberin im Bett an der Tür stöhnte laut. »Vielleicht steigen Sie herunter vom Baum«, meinte Jo’ela und berührte die kleine Hand, die sich in das Laken klammerte. »Vielleicht überlegen Sie sich trotzdem jemanden, den Sie bei sich haben wollen? Was ist mit dem jungen Mann, dem Vater?«
    »Ich warte hier, bis ich aufgenommen werde«, erklärte die junge Frau und richtete sich im Bett auf.
    »Doktor Goldschmidt«, sagte Mirjam hinter dem Wandschirm, »kann ich Sie einen Moment sprechen?«
    Jo’ela ging zu ihr. »Sie kann nicht einfach ein Bett besetzen in so einer Nacht, wirklich, Jo’ela«, flüsterte Mirjam. »Wir sind kein Obdachlosenasyl oder so was. Ich bin vielleicht nicht berechtigt, mich einzumischen, aber …«
    Jo’ela atmete laut. »Im Ernst, Mirjam, sie ist ganz allein auf der Welt.«
    »Wie naiv ihr manchmal seid.«
    »Naiv? Und wer ist mit ›ihr‹ gemeint?«
    »Ihr, das heißt du und …«, stieß Mirjam aus.

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