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So habe ich es mir nicht vorgestellt

So habe ich es mir nicht vorgestellt

Titel: So habe ich es mir nicht vorgestellt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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ab. Sein fast kahler Kopf war jetzt nur noch von einer großen, weißen Kipa bedeckt. Nun sah man auch die breite, weiße Stirn, die Nase, den langen, schmalen Mund, fast verborgen unter dem dünnen Bart. Seltsam und überraschend war die Ähnlichkeit mit dem jungen Mädchen, mit ihrem fast männlich geschnittenen Gesicht, und überraschend war auch seine Stimme, ein heller Tenor, mit dem er den Gruß seiner Frau erwiderte. Die Wangen der Frau wurden noch röter, sie saß da, mit herabhängenden Armen, aufgeregt und erschrocken, als habe man sie bei einer Sünde ertappt.
    »Ziporale hat gesagt, wir haben Besuch«, sagte er, ohne zum Sofa hinüberzublicken.
    Jo’ela saß da, die Beine dicht nebeneinander, und wartete. Für einen Moment fühlte sie sich vom Erschrecken der Mutter angesteckt. Was würde sie tun, wenn er mit den Füßen in den abgetretenen braunen Schuhen aufstampfte, die Hände in die Hüften stemmte, in ihre Richtung spuckte? Was würde sie tun, wenn er die Hand ausstreckte und ihr die Tür wies? Sie hatte kein Recht, hier zu sein. Ohne den weißen Kittel konnte man nicht wissen, was erlaubt und was verboten war, was sich lohnte und was nicht.
    Seine Augen, dunkelblau wie die des Mädchens, glitten über sie, dann wandte er sich sofort wieder an seine Frau. »Wer ist sie?« fragte er leise.
    »Die Ärztin aus dem Krankenhaus«, kam die schnelle Antwort. »Frau Doktor Goldschmidt, über die der Rabbiner gesagt hat …«
    Der Mann wippte auf seinen langen Beinen und lehnte sich an den Türstock. Die Frau erhob sich von ihrem Stuhl, dessen Lehne Rillen in ihren geblümten Kittel gedruckt hatte. Sie blieb stehen, hielt sich am Tischrand fest und blickte von Jo’ela zu ihrem Mann. Der murmelte etwas in seinen Bart und starrte den Fußboden an, der inzwischen ganz getrocknet war. Das kleine Mädchen stand neben ihm und hielt sich an seinem gestreiften Mantel fest. Mit seiner schmalen, weißen Hand fuhr er über ihren Lockenkopf.
    »Der Heilige, gelobt sei Er, möge meine Augen von der Sünde wenden und mich auf Seinen Wegen führen«, sagte er seufzend und setzte sich nicht weit von seiner Frau an den Tisch. Sein Gesicht war dem Schrank mit den Glastüren zugewandt. Die Kleine kletterte auf seine Knie.
    »Genug, genug«, sagte ihre Mutter.
    »Sie stört nicht«, beruhigte sie ihr Mann. »Es ist schon in Ordnung.«
    Er blickte Jo’ela nicht an, doch eine gespannte Erwartung hing in der Luft. Jo’ela setzte sich gerade. »Ich bin wegen Henia gekommen«, sagte sie zögernd, und aus Ärger über sich selbst, weil sie sich nicht davon befreien konnte, fuhr sie schnell fort: »Man kann die Sache nicht so lassen, so ungeklärt.«
    »Henias Mutter hat mir am Telefon gesagt, daß es ein Problem gibt«, murmelte er, das Gesicht über die Haare des Mädchens gesenkt.
    »Sie muß umfassend untersucht werden«, sagte Jo’ela, selbst nicht überzeugt von der Logik ihrer Behauptung. »Wir müssen genau herausfinden, wo das Problem liegt, damit wir sehen, ob man etwas tun kann.«
    »Wir müssen darüber nachdenken«, sagte der Mann in warnendem Ton, als fürchte er sich vor dem, was sie vielleicht noch sagen könnte. »Wir müssen uns mit dem Rabbiner beraten, wir müssen sehen, der Herr wird uns helfen.« Noch immer hatte er das Gesicht abgewandt.
    Sie trommelte mit den Fingern einer Hand auf dem Knie, stand plötzlich auf und setzte sich sofort wieder hin. Sie ließ den Blick über seine zusammengesunkene Gestalt gleiten, dann schaute sie die Mutter an. »Was gibt es da zu sehen und nachzudenken? Henia muß ins Krankenhaus, ganz einfach. Sie wird untersucht, und dann weiß man Bescheid.«
    »Ihr Herz ist völlig verstockt«, murmelte der Vater und stellte die Kleine neben sich, wandte aber den Kopf mit dem scharfen Profil nicht zu Jo’ela. »Er in Seiner Gnade hält mich fern vom Weg der Lüge und führt mich den Weg Seines Gesetzes.« Er räusperte sich, sein Adamsapfel rutschte auf und ab.
    Frau Horowitz sagte nichts, sie blickte ihren Mann erschrocken an. Die Kleine schmiegte sich an ihren Vater. Mit dem Finger im Mund stand sie an sein Knie gelehnt, bis ihre Mutter sie wegzog.
    »Warum sind Sie zu mir gekommen, wenn nicht, um Henias Problem zu lösen?« fragte Jo’ela sehr ruhig und langsam. Die Stimme zu erheben wäre ein grober Fehler. Sie betrachtete ihre Hände. »Sie hätten es doch gar nicht zu tun brauchen.«
    Nach einigen Sekunden des Schweigens sagte der Vater leise: »Der Rabbiner hat es uns

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