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So habe ich es mir nicht vorgestellt

So habe ich es mir nicht vorgestellt

Titel: So habe ich es mir nicht vorgestellt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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wischte sich mit dem karierten Ärmel über die Nase und die runde Wange.
    »Was ist denn?« klang plötzlich die zornige Stimme der Mutter, auf Jiddisch. Die Frau stand schon in der Tür. Ihr Gesicht war rot, wie es im Krankenhaus gewesen war, und unter dem festgebundenen schwarzen Kopftuch, das die Stirn halb bedeckte, lugte auch jetzt kein Härchen hervor. Sie trug einen ähnlichen Kittel wie die Frau mit dem Kinderwagen vorhin auf der Treppe, nur in Braun, dazu schwarze Wollstrümpfe. Mit vorgewölbtem Bauch stand sie da und blickte Jo’ela erstaunt an, als erkenne sie sie nicht, dann ließ sie den Blick zum Türstock wandern, murmelte ein gleichgültiges »Ja« und hielt die Tür fest.
    »Sie waren vor ein paar Tagen bei mir, ich bin Doktor Goldschmidt«, sagte Jo’ela und merkte, daß sie plötzlich, wie Ja’ara es oft tat, den Satz in einem leicht fragenden Ton beendete, als erwarte sie ein zustimmendes Nicken.
    Frau Horowitz streckte den Kopf aus der Tür und blickte nach links und nach rechts, dann stieß sie die Tür auf und blieb neben ihr stehen, bis Jo’ela eingetreten war. »Sie sind schwer zu finden«, sagte Jo’ela, nur um etwas zu sagen. Sie stand noch an der Tür, vor einem Eimer, einem Schrubber und einem Putztuch.
    »Sie haben das Haus gefunden«, sagte die Frau vorwurfsvoll. »Wie haben Sie das geschafft?«
    »Ich habe gefragt«, gab Jo’ela zu.
    »Wen haben Sie gefragt?« wollte die Frau wissen, und das kleine Mädchen blickte ängstlich von ihr zu Jo’ela, hängte sich dann an den Kittel ihrer Mutter und flüsterte vernehmlich: »Si is a prize?« (Anm.: prize (jidd.): Hure)
    Die Mutter gab ihr einen Klaps auf die Hand und zischte: »Schtil!«
    »Ein paar Häuser weiter«, sagte Jo’ela entschuldigend.
    »Aber ich habe nichts gesagt, niemand weiß …«
    »Sie sind mit Ihrem Auto gekommen, und alle haben es gesehen«, widersprach die Frau.
    »Nein, nein, ich bin in einem Taxi gekommen, und niemand hat es gesehen«, wehrte Jo’ela erschrocken ab.
    Frau Horowitz zog ihre vollen Backen zwischen die Zähne. »Gut«, sagte sie mißbilligend, »kommen Sie rein.«
    Jo’ela ging durch den engen Flur, vorbei an dem Putzeimer und dem Lappen, und betrat ein nicht sehr großes Zimmer. In der Mitte, um einen langen Tisch, standen Stühle mit schmalen Lehnen. Ein Teil der gelblichen Fußbodenkacheln schimmerte noch feucht, vor allem vor dem großen Schrank, hinter dessen Glastür Jo’ela ein paar Bücher mit rötlichem Einband entdeckte, neben zwei Silberleuchtern und dem Hawdala-Gerät.
    Frau Horowitz deutete auf ein grünes abgewetztes Sofa. »Ich bin mitten im Putzen«, sagte sie, »wir hatten gestern viele Gäste, wegen der Trauung meiner Nichte.« Ihre Stimme klang entschuldigend und anklagend zugleich. Die Tischecke bohrte sich ihr zwischen Brust und Bauch, als sie sich vorbeugte, zwei Stühle nahm und sie mitten ins Zimmer stellte. Auf einen kletterte das kleine Mädchen, nachdem sie vorher im Vorbeigehen Jo’elas Faltenrock berührt hatte.
    »Genug«, schimpfte die Mutter. Sie stand noch immer neben dem Tisch.
    Jo’ela ging mit zögernden kleinen Schritten zur Ecke mit dem grünen Sofa, wobei sie sorgfältig den feuchten Flecken auf dem Fußboden auswich, und setzte sich. Sie legte den Arm auf die schmale Holzlehne und stützte das Kinn in die Hand. Von hier aus konnte sie das Fenster in der gegenüberliegenden Wand sehen, und eine halboffene Tür, die in die dämmrige Küche führte. Frau Horowitz seufzte, zog ihren Kittel enger und setzte sich dann auf den Stuhl am Kopfende des Tisches. Das Mädchen starrte Jo’ela mit wachen, neugierigen Augen an, als wolle sie ihre Gesichtszüge auswendig lernen.
    »Kann sie Hebräisch?« fragte Jo’ela.
    »Sie versteht es«, antwortete die Frau unwillig.
    »Dann wäre es vielleicht besser, daß sie … Wir sollten uns lieber allein unterhalten. Sagen Sie ihr doch, daß sie rausgehen soll.« Jo’ela fiel auf, wie laut ihre Stimme klang, wie deutlich sie die Wörter aussprach, als unterhalte sie sich mit jemandem, dem es schwerfiel, eine fremde Sprache zu verstehen. Die Mutter machte eine Kopfbewegung zu dem Mädchen. Die Kleine stand langsam auf und ging rückwärts zur Tür, mit langen Schritten, die sie laut zählte. Als sie im Flur war, hörte man sie rennen, dann fiel eine Tür ins Schloß.
    »Es geht um Ihre älteste Tochter, um Henia«, erklärte Jo’ela.
    Frau Horowitz schwieg.
    »Ist sie nicht zu Hause?« erkundigte sich Jo’ela.
    Die

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