So habe ich es mir nicht vorgestellt
Mutter gab nur widerwillig Auskunft. »Nein, sie lernt.«
»Wir müssen sie zu Untersuchungen ins Krankenhaus aufnehmen«, sagte Jo’ela. »Sie sind sehr spät gekommen, wir sollten keine Zeit verlieren. Wenn wir uns beeilen, können wir vielleicht noch etwas machen. Ihr helfen. Aber es ist wirklich dringend. Sie müssen Sie zu gründlichen Untersuchungen zu uns bringen.«
»So etwas kann ich nicht allein entscheiden«, sagte die Frau erschrocken und fuhr mit der Hand über die braune Tischplatte. »Ich muß meinen Mann fragen.«
»Sie hatten drei Tage Zeit, um mit ihm zu sprechen, und nichts ist passiert«, sagte Jo’ela. »Ich bin extra hergekommen, denn vielleicht haben Sie nicht ganz verstanden, wie ernst … wie ernst die Situation ist.«
»Wir haben noch nicht entschieden, was wir tun«, sagte die Frau und senkte den Kopf. »Mein Mann wollte nur wissen, ob sie … ob sie das Leben einer Frau führen kann.«
»Sogar das kann ich Ihnen erst nach weiteren Untersuchungen sagen. Ich bürge für nichts, wenn das Mädchen nicht gründlich untersucht wird«, erklärte Jo’ela und legte ein Bein über das andere.
Frau Horowitz schob die Unterlippe vor, so daß ihre Zähne zu sehen waren. »Wir müssen es entscheiden. Ohne meinen Mann kann ich das nicht. Und er ist nicht da. Er ist außerhalb der Stadt, beim Lernen, die ganze Woche über. Er kommt nur einmal mitten in der Woche nach Hause und am Schabbat. Wenn er kommt, werde ich ihn fragen. Und er wird sich mit dem Rabbiner beraten.«
Jo’ela erschrak. »Heißt das, er weiß noch nicht mal, daß Sie mit dem Mädchen zur Untersuchung waren?«
»Natürlich weiß er das!« protestierte Frau Horowitz. »Das haben wir vor einer Woche mit dem Rabbiner ausgemacht. Hat er es Ihnen nicht gesagt?«
»Wenn der Rabbiner einverstanden war, daß Sie mit dem Mädchen zu mir kommen, warum sollte er dann weiteren Untersuchungen nicht zustimmen?« sagte Jo’ela.
»Die Leute reden«, meinte die Frau zögernd. »Das verringert die Chancen. Ich habe außer Henia auch noch Schifra Rachel, sie ist bald fünfzehn.« Sie beugte sich vor. »Bei euch ist das anders, aber bei uns ist es so.«
»So etwas läßt sich doch gar nicht verheimlichen«, behauptete Jo’ela. »Nach der Hochzeit kommt es doch raus. Was wollen Sie tun? Sie einfach verheiraten, ohne ein Wort zu sagen? Wie wird sie sich da fühlen? Ihre Tochter ist nicht in Ordnung, Frau Horowitz, ich möchte ihr doch nur helfen. Machen Sie sich denn keine Sorgen um das Mädchen?«
»Der Heilige, gelobt sei Er, sorgt für uns alle«, murmelte die Frau, senkte den Kopf und zog mit dem Finger Linien über die Tischplatte.
Jo’ela folgte der Bewegung der Hände, die von weitem kindlich und hilflos aussahen. Die Frau war vielleicht noch nicht mal fünfunddreißig. Fünf Töchter in diesem kleinen, erdrückenden Haus, und alle mußte man verheiraten. Und dann? Dann war das Leben eigentlich zu Ende. Vielleicht ist sie jetzt schwanger. Es war nicht zu sehen, ob der Bauch das Überbleibsel der fünf Schwangerschaften war oder der Beginn einer neuen.
»Bei uns«, erklärte Frau Horowitz, »vertraut man auf Ihn, gelobt sei Er. Auch bei kleinen Kindern, wenn man draußen sagt, man soll ihnen eine Spritze gegen Masern oder eine andere Krankheit geben. Ich hab’s nicht getan. Mein Mann hat es nicht erlaubt. Und die Kinder sind gesund, unberufen, der Herr sorgt für uns alle. Vielleicht kommt es ja von allein in Ordnung, es geschieht, wie Er es will.«
»Das ist etwas ganz anderes«, wandte Jo’ela ein. »Es geht hier nicht um eine Impfung gegen Krankheiten, es geht darum, daß Ihre Tochter vielleicht keine …«
Die Tür wurde lärmend geöffnet, und die Frau sprang auf. Erst kam das kleine Mädchen angerannt, aufgeregt rufend: »Tate, Tate, Tate iß do, Tate hot gekumen!« , und dahinter tauchte die hohe, schmale Gestalt eines Mannes auf, das Gesicht halb verdeckt von einem breitkrempigen schwarzen Hut. Er hatte einen langen, dünnen hellen Bart und dünne Schläfenlocken, die ihm bis auf die Schultern fielen. Er trug einen grün-weiß gestreiften Mantel mit einem breiten Gürtel in vergilbtem Weiß, darunter waren weite, unter dem Knie zusammengehaltene Stoffhosen zu sehen. Hätte er dazu weiße seidene Strümpfe getragen, hätte seine untere Hälfte wie die eines Pagen ausgesehen, aber seine Strümpfe waren schwarz und lagen eng an den dünnen Beinen an, so dünn wie die des Mädchens. Als er in der Tür stand, nahm er den Hut
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