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So habe ich es mir nicht vorgestellt

So habe ich es mir nicht vorgestellt

Titel: So habe ich es mir nicht vorgestellt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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etwas?«
    »Alles liegt in Seiner Hand«, sagte er feierlich.
    »Aber es ist so schade, es ist schade um das Mädchen«, sagte Jo’ela flehend und zog den Mantel fester um sich. »Bricht es Ihnen nicht das Herz? Wissen Sie eigentlich, daß ich noch nicht einmal sicher bin, ob sie eine Gebärmutter hat?« So. Nun hatte sie es ausgesprochen.
    Er senkte den Kopf und schwieg.
    »Ich habe sie untersucht und nichts gemerkt von einer Gebärmutter. Vielleicht ist sie weiter oben, vielleicht verlagert, aber um das zu wissen, muß ich Ihre Tochter untersuchen.«
    »Sie wird nicht ins Krankenhaus gehen«, sagte er und verschränkte die Hände. »Es ist besser, wenn Sie uns jetzt verlassen.« Seine Stimme war leise.
     
    Wenn man oben an der Treppe der Awodat-Israel-Straße steht, unter dem steinernen Bogen, den Kopf senkt und blinzelt, hat man das Gefühl, einen Ausschnitt aus einem Schwarzweißfilm über ein jüdisches Ghetto zu sehen. Die Autos stören das Bild zwar, aber die Männer, die ihre schwarzen Hüte festhalten, und die Frauen, denen man schon von weitem ansieht, daß sie Perücken tragen, stimmen genau. Wohin eilen all diese Menschen? Warum gehen sie nicht langsamer? Heißer Wind wirbelt durch die Luft, reißt abgerissene Teile von Anzeigen mit sich, Zeitungsfetzen, eine leere Limonadenpackung. Wenn man oben an den langen schmalen Stufen steht und mit der Schuhsohle über ihre rissige Kante reibt, kann man sich nicht vorstellen, daß man sie sicher hinuntersteigen wird. Wenn man oben an der Treppe steht und der Gruppe Mädchen in langen blauen Röcken und schwarzen Strümpfen zuschaut, die über die lärmende Straße rennen, und meint, in der Gestalt am Rand, der mit den schlenkernden, knochigen Gliedern, das Mädchen zu erkennen, kann man sich vorstellen, das Gleichgewicht zu verlieren und die Treppe hinunterzufallen. Sie hätte nicht so mit dem Vater sprechen dürfen, sie hätte nicht die Beherrschung verlieren dürfen, sie hätte auf einen anderen Tag warten müssen, um etwas für das Mädchen zu erreichen. Alle Mädchen auf der Straße waren sauber gewaschen, alle trugen lange Zöpfe. Wenn es soweit war, würde man ihnen die Zöpfe abschneiden. Langsam ging Jo’ela die Stufen hinunter, die Hand an das Eisengeländer gelegt, das die Treppe entlangführte, bis hinunter zur Me’a-Sche’arim-Straße. Rabbi Akiba hat gesagt: Alles ist nur als Pfand gegeben, und ein Netz ist über das ganze Leben gespannt. Wieso erinnerte sie sich daran?
     
    Vor dem Operationssaal trat Nerja neben sie, sehr nahe, zu nahe. Er legte ihr den Arm um die Schulter. Sie spürte seinen Atem an ihrem Ohr. »Hör auf, dich selbst aufzufressen, Jo’ela«, sagte er leise. »Solche Dinge passieren eben. Das nächste Mal wird sie mehr Glück haben.«
    Hier, vor dem Operationssaal, kam sie langsam wieder zu Kräften. Sie lehnte sich an die Wand, zog sich die OP-Haube vom Kopf und zerknüllte sie zwischen den Händen. Nerja stieß an einen Türflügel, und für einen Moment drang das Weinen Talia Levis heraus auf den Flur, bis Nerja die Tür losließ, die noch einmal vor- und zurückschwang und sich dann schloß.
    »Da kann man nichts machen, wenn sich siebzig Prozent der Plazenta abgelöst haben und du noch dazu mit ihr im Fahrstuhl steckenbleibst. Aber auch da war es schon zu spät. Da kann man nichts machen.«
    Zwei Falten erschienen zwischen seinen Augen – ein helles Blaugrün, dessen gelber Schimmer nun durch das Grün des Operationskittels verwischt wurde – und eine starke Wölbung unter dem Brillenrand, neben der rechten Augenbraue, deren Aufwärtsschwung ihm immer einen leicht fragenden, zweifelnden Ausdruck verlieh. Beim Sprechen betrachtete er prüfend seine Finger, einen nach dem anderen, dann zog er das Band seiner grünen Hose fester und klopfte ihr mehrmals leicht auf die Schulter, wie man einem Baby auf den Rücken klopft, damit es endlich aufstößt. Sie betrachtete die waagerechte Kerbe an seinem Kinn, unterhalb der schmalen Lippen, die ihm ein hartes, besonders autoritäres Aussehen verlieh, als er jetzt von sich aus sagte, ohne daß sie ihn gefragt hatte: »Ich hätte an deiner Stelle nichts anderes getan, wirklich nicht. Vermutlich hätte ich auch operiert, auch wenn es, medizinisch gesehen, eine falsche Entscheidung war. Nach vierzig Stunden Wehen, wenn sich die Plazenta löst und das Kind plötzlich stirbt, noch dazu bei einer unverheirateten Mutter, so daß es niemanden gibt, mit dem man sprechen kann, hätte ich

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