So habe ich es mir nicht vorgestellt
den Schultern. Sie wollte nicht, daß man sie in dem Mantel sah, deshalb trug sie ihn über dem Arm.
»Hab keine Angst, Jo’ela, ich bin ja bei dir«, sagte Nerja, während er ihr die Aufzugtür aufhielt, wartete, bis sie hineingegangen war, und dann auf den Knopf drückte. »Mach dir keine Sorgen, es kommt alles in Ordnung. Denken wir an etwas Schönes. Zum Beispiel an die neue Abteilung. Du wirst sehen, was für eine besondere Abteilung das wird, ich habe tolle Pläne.«
Jo’ela verzog die Lippen zu einem Lächeln.
Als sie in der Schlange standen, eingequetscht zwischen der langen Theke und dem Geländer, verkündete Nerja: »Denn der Mensch ist wie ein dürrer Baum.« Er legte Brot auf das Tablett, zwei Teller mit Vermischtem, eine Schüssel mit gelbem eingelegtem Gemüse, eine rote Paprikaschote und einen Teller Weißkraut, dazu tatsächlich eine Schüssel mit warmen, fettigen Pommes, und auf ihr Tablett stellte er zwei Schüsselchen Suppe.
(Als sich herausstellte, daß das Baby in Schwierigkeiten war, daß der Herzschlag nachließ und sich nicht mehr erholte, als Jo’ela schrie: »Abruptio!« und alles in Aufregung geriet, war es schon zu spät.)
Gut, daß Nerja die neue Abteilung bekommt, dachte Jo’ela. Da würde sich die Wunde endlich schließen, und sie würde nicht mehr fürchten müssen, er sei neidisch, denn manchmal war es ihr wirklich vorgekommen, als läge etwas Feindseliges in seinem Blick. Besonders am Schabbat, wenn er mit Chanusch und den Kindern zu Besuch kam und sie an dem großen Tisch saßen und über alles mögliche sprachen, was nicht zum Beruf gehörte, hatte sie oft das Gefühl gehabt, er sei böse auf sie. Und bei den letzten Besprechungen war er immer schweigsamer geworden, vor allem wenn an Tagen, an denen Margaliot verreist war, sie den Tagesplan vorgelegt hatte. Gut, daß diese neue Abteilung eingerichtet wurde, mit einem Inkubator, und daß er der Chef wurde. Er würde gute Forschungsbedingungen bekommen und müßte nicht mehr mit dem Gefühl der Niederlage kämpfen, weil sie ihm bei der Beförderung vorgezogen worden war. Er müßte auch nicht mehr so laut ihre Freundschaft betonen. Nicht, daß es diese Freundschaft nicht gab, da brauchte man nur an die vielen Jahre zu denken, an das gemeinsame abendliche Lernen, auch an die Feste, die gemeinsamen Essen, die Feiern. Trotzdem lag ein Keim des Zweifels in ihrer Beziehung, das Gefühl, vielleicht doch lieber zurückzustecken und vom anderen nicht das Unmögliche zu verlangen. Eigentlich hätte man denken können, die Freundschaft sei vollkommen, aber Jo’ela brauchte nur die Augen zu schließen, um die Stimme ihrer Mutter zu hören. Wirklich? fragte sie, wie sie jedesmal gefragt hatte, wenn Jo’ela ihr von etwas erzählte, auf das sie sich freute, und sie sofort von vornherein alles in Zweifel zog und sie damit ansteckte. Ihre Augen, blau, sehr blau, an der Badezimmertür. Warum weinst du? fragte sie, kurz, mit einer kalten, zornigen Stimme. Er ist vielleicht der erste, aber nicht der letzte, es wird noch viele geben. Sie hatte nie erlaubt, daß Jo’ela ihren Kummer zeigte. Freunde kommen und gehen, nur der Familie kann man vertrauen.
Sie könnte Nerja von dem jungen Mädchen erzählen. Nein, besser nicht, er würde lachen und fragen, warum sie sich eigentlich darum kümmerte.
Nerja nahm das Geschirr von dem braunen Plastiktablett und stellte ein weißes Schüsselchen vor sie hin, Suppe, in der kleingeschnittenes Gemüse schwamm. Sie brach sich ein Stück weißes Brot ab. »Es gab kein Fladenbrot«, sagte er entschuldigend. »Aber frisches Brot ist ja auch was Gutes. Es geht nichts über frisches Brot.«
»Na ja, ich hätte sie vielleicht nicht operieren sollen«, sagte Jo’ela, als sie sich über den Teller mit Chumus beugte.
(Talia Levi hatte nicht einmal geweint. »Dann operieren Sie mich eben«, hatte sie gesagt. »Heute nacht habe ich das Kind noch gefühlt, und jetzt das. Sind Sie sicher, daß nichts zu machen ist?« Und Jo’ela hatte geantwortet: »Ihretwegen wäre es besser, auf die natürliche Geburt zu warten. Eine Operation hat trotz allem etwas Traumatisches.« Da erst hatte Talia Levi angefangen zu weinen. »Ich wollte nicht umsonst von Anfang an hierbleiben. Ich habe gefühlt, daß etwas nicht in Ordnung ist.« Jo’ela hatte es ihr erklärt: »Bei einer vorzeitigen Ablösung der Plazenta kann man nichts machen, man kann sie nicht verhüten oder auch nur voraussagen, vor allem nicht bei der ersten
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