So hoch wie der Himmel
Aber Mrs. Williamson wurde allmählich alt. Ann fand inzwischen häufig einen Vorwand, unter dem sie während der Essensvorbereitungen in der Küche blieb, nur, um sicherzugehen, dass Mrs. Williamson sich nicht in den Finger schnitt oder das Essen anbrennen ließ.
Jeder außer Miss Laura hätte die Frau inzwischen pensioniert, überlegte Ann. Aber Miss Laura verstand, dass das Bedürfnis, gebraucht zu werden, nicht mit dem Alter schwand. Miss Laura hatte Verständnis für Templeton und seine Tradition.
Es war bereits nach zehn, und überall herrschte Ruhe. Arbeit gab es keine mehr, und nach einem letzten Rundblick dachte sie, dass sie sich nun in ihre kleine Wohnung zurückziehen, sich einen Tee kochen, die Füße hochlegen und noch irgendeinen Film im Fernsehen anschauen konnte.
Irgend etwas, damit sie nicht wieder grübelte.
Die Fensterläden klapperten im Wind, und es fröstelte sie vorübergehend. Mit einemmal öffnete sich obendrein die Hintertür und ließ Regen, Wind und beißend kalte Luft herein. Und noch etwas anderes. Ann hatte das Gefühl, als setze ihr Herzschlag aus.
»Hallo, Mum!« Das strahlende, forsche Lächeln war Margo inzwischen zur zweiten Natur geworden, so dass es beinahe ihre Augen erreichte, als sie sich mit der Hand durch die wie flüssiges Gold auf die Hüften fallenden Haare fuhr. »Ich habe das Licht gesehen«, fügte sie mit einem nervösen Lachen hinzu. »Und zugleich eine Erleuchtung gehabt!«
»Du läßt die Nässe rein.« Dies war zwar nicht das erste, aber zumindest das Eindeutigste, was Ann durch den Kopf schoß, als sie ihre Tochter erblickte. »Mach die Tür zu, Margo, und häng deine Jacke auf.«
»Auf diesen Regen war ich nicht gefaßt.« Margo sprach so selbstverständlich, wie es ging, während sie die Tür vor dem prasselnden Regen schloß. »Ich hatte ganz vergessen, wie kalt und naß der März hier an der Küste sein kann.« Sie stellte ihre Tasche ab, hängte ihre Jacke über den Haken an der Tür und rieb sich verlegen die Hände. »Du siehst prächtig aus – mit der neuen Frisur.«
Anders als viele andere Frauen hob Ann bei dieser Feststellung nicht die Hand ans Haar. Eitelkeit fehlte ihr völlig und sie hatte sich oft gefragt, weshalb Margo ihr Aussehen immer derart wichtig gewesen war. Auch Margos Vater hatte sich eher in Bescheidenheit geübt.
»Wirklich, sie steht dir.« Margo probierte abermals ein Lächeln. Ihre Mutter war tatsächlich eine attraktive Frau, und auch wenn ihr einst helles Haar im Verlauf der Jahre deutlich nachgedunkelt war, wies es bisher doch nur vereinzelte graue Strähnchen auf. Die Fältchen in ihrem Gesicht waren nicht sehr tief und ihr ernster Mund wirkte aufgrund seiner vollen Üppigkeit, auch ohne Rouge, geradezu verführerisch.
»Wir haben dich nicht erwartet«, sagte Ann und bedauerte ihre Förmlichkeit. Aber ihr Herz war so voll Freude und Angst, dass sie einfach nicht wagte zu zeigen, was sie empfand.
»Nein. Ich habe daran gedacht, anzurufen oder ein Telegramm zu schicken. Aber dann … dann ließ ich es lieber sein.« Sie machte eine Pause und fragte sich, weshalb es keiner von ihnen gelang, die kurze Distanz zu überwinden und auf die andere zuzugehen. »Sicher hast du von der Sache gehört …«
»… einiges …« Um nicht zu zeigen, wie erregt sie war, trat Ann an den Herd und stellte einen Kessel Wasser auf. »Ich mache dir erst mal einen Tee. Du mußt vollkommen durchgefroren sein.«
»Manche Berichte in den Zeitungen habe ich gelesen und auch etliches aus den Nachrichten mitbekommen.« Margo hob eine Hand, aber der Rücken ihrer Mutter war so starr, dass sie sie, ohne ihn zu berühren, wieder sinken ließ. »Es stimmt nicht alles, was über mich berichtet wird, Mum.«
Ann griff nach der Alltagskanne und wärmte sie mit heißem Wasser vor. Innerlich zitterte sie vor Schmerz, vor Sorge, vor Liebe zu ihrem Kind. »Nicht alles?« fragte sie.
Dies war nur eine von all den Erniedrigungen, sagte Margo sich – die aber leider von ihrer Mutter kam. Dabei brauchte sie so verzweifelt einen Menschen, der zu ihr stand. »Ich wusste nicht, was Alain tat, Mum. Er war vier Jahre lang mein Manager, und ich habe bis zum Ende nie bemerkt, dass er zugleich mit Drogen dealt. Er hat nie welche genommen, zumindest nie, wenn ich in der Nähe war. Als wir verhaftet wurden … als alles herauskam …« Sie unterbrach sich und stieß einen Seufzer aus, als sie sah, dass ihre Mutter Tee in die Kanne löffelte. »Persönlich wurde ich in
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