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So muss die Welt enden

So muss die Welt enden

Titel: So muss die Welt enden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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Mehrere Sekunden lang atmeten sie in dieser Abgestimmtheit weiter, George unterließ das Ausatmen, sie das Atemholen.
    Die Alte hatte schwarzes Blut. Es war schwarz wie ihre Augen. Schwarz wie südafrikanischer Granit. Es hatte einen schwefligen Geruch.
    »Möchten Sie ein Pflaster?« fragte George.
    »Ja bitte.« Nadine lutschte am Daumen.
    Mit nervösen Fingern kramte er in dem Regal, wo er die Inschriftenliste aufbewahrte, suchte eine kleine Dose heraus. Er biß sich auf die Innenseiten der Wangen, als wollte er sich so bestrafen. Tolle Leistung, George. Schneidest den Kunden die Finger ab. Die beste Möglichkeit, um einen Kaufvertrag abzuschließen.
    Nadine rupfte das Plastik vom Pflaster und wickelte es um den schwarzen, sicherlich schmerzhaften Schnitt.
    Auf Georges Werkbank lag eine Gummischablone. Er kerbte ihr zur Vervollkommnung der vorgesehenen Inschrift ein paar Schnipsel weg. IN LIEBEVOLLEM GEDENKEN AN GRACE LOQUATCH IHRE SÄGE IST VERSTUMMT. Es folgten Grace Loquatchs Geburts- und Todesdaten. Sie war Tischlerin gewesen. Die Inschrift fußte auf einer Idee ihrer Schwester.
    Schwarzes Blut? Was für eine scheußliche Erkrankung mochte Mrs. Covington sich zugezogen haben?
    Er befestigte die Schablone auf Grace Loquatchs Grabstein, einem Modell Nr. 4306 im Vermonter Taubenblaugrau. Zur Beförderung des Steins durch die Werkstatt benutzte er einen Laufkran, obwohl er diese Aufgabe ebensogut mit bloßen Händen hätte erledigen können. Grace Loquatchs Unvergänglichkeitssymbol schwebte an drei Elektroheizkörpern vorbei, die man rumoren hörte, an einem Stapel als Bleistiftzeichnungen vorgenommener Entwürfe, die auf die Absegnung durch die Kunden warteten, und an mehreren Frachtkisten, in denen unbehauene Steine aus den großen Steinbrüchen Kanadas und Vermonts standen.
    »Außer Gewissensberuhigungs-Grabsteinen kommen regelmäßig Eigengroll-Grabsteine vor«, sagte George. (Eigengroll-Grabsteine? Ja, das war dafür gar kein schlechter Begriff.) »Sie dienen dem Kunden, um sich an sich selbst dafür zu rächen, daß er sich nie dazu durchgerungen hat, wirklich zu leben – verstehen Sie, was ich meine? Gestern ist… eine Frau beigesetzt worden. Sie kreuzte hier bei uns auf, gleich nachdem der Arzt sie über ihre Lungentumore informiert hatte. ›Einmal möchte ich mir etwas Hübsches für mich allein erlauben‹, sagte sie zu uns. Also haben wir ein ganz besonderes Grabmal entworfen, eins mit allen Arten von Blumen und Vögeln. Und Engeln. Hat uns zweimal soviel Arbeit als sonst gemacht, aber ich wollte ihr keinen Aufschlag berechnen, sie hatte ja schon genug Probleme. Ich habe sie mit der Bleistiftzeichnung im Krankenhaus besucht. ›Das ist aber schön‹, sagte sie. Und dann: ›So was hab ich gar nicht verdient.‹«
    George bugsierte den Stein in die Bearbeitungskammer des Elektrisch-Automatischen AEG-Sandstrahlgebläses, schloß die Klappe und schaltete den Motor ein. Durchdringend scharfe Geräusche ertönten. Voller Faszination sah Nadine zu, wie durch den Schlauch ein Strahl Tonerde schoß und daraus hervorfegte. Von der Gummischablone prallten die schmirgeligen Sandkörner ab; dagegen prasselten sie durch die Lücken in der Schablone wuchtig auf den Granit und scheuerten ihn tief ein. Schleifstaub umwallte den Stein wie eine Dunstwolke.
    »Ein Mensch könnte es darin nicht lange aushalten«, bemerkte Nadine, nachdem George das Sandstrahlgebläse abgeschaltet hatte. »Bald wären nur Knochen übrig.«
    »Außer man trägt ’ne ARES-Montur.« George betrat die Bearbeitungskammer und schälte die Schablone herunter. Jetzt stand für alle Ewigkeit IN LIEBEVOLLEM GEDENKEN AN GRACE LOQUATCH IHRE SÄGE IST VERSTUMMT auf dem Stein. Mit dem Finger prüfte er die hervorragend gelungenen, trockenen Einkerbungen.
    »Sie und ich sind möglicherweise die einzigen Leute in Wildgrove, die keine ARES-Monturen tragen, George.«
    »Meine Frau und unser Kind haben auch keine.« George entfernte den Grabstein am Kran aus der Bearbeitungskammer. »Für manche Menschen sind siebentausend Dollar halt ’ne Menge Kies. Es wäre mir lieber, Holly hätte ’ne Montur. Sie geht in die Kindertagesstätte.«
    »Die Kindertagesstätte Sonnenblume«, konstatierte Nadine. »Manchmal schaue ich dort vorbei. Das ist gewissermaßen mein Hobby… Kindern beim Spielen zuzugucken. Holly ist ein sehr gescheites Kind, nicht wahr? Und anständig. Gestern hat die Gruppe Felsen gemalt. Holly hat den Kindern geholfen, die sich nicht

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