So nah am Leben
Gefühl. Es ist eines dieser kleinen Städtchen, die sie am liebsten sofort durchwandern und gleich wieder verlassen möchte. Nach einem mehrere Kilometer langen Asphalt-Bürgersteig-Marsch kommt sie endlich in die Altstadt. Sie läuft bis zur Herberge und sucht sich eine Bank. Dort studiert sie sofort ihren Reiseführer, um herauszufinden, ob es vielleicht eine andere Möglichkeit für eine Übernachtung gibt, aber das nächste Hostal ist mehr als zehn Kilometer entfernt. Das ist eine viel zu lange Strecke, um sie heute noch zu bewältigen. Also entschließt sich Samantha, hier zu bleiben, und sucht sich ein Hostal.
Frisch geduscht und ein bißchen ausgeruht, macht sie sich noch einmal auf den Weg zur Herberge, um zu schauen, ob Markus dort Station macht. Als sie den Plaza de Mayor überquert, sieht sie ihn schon auf einer der Bänke in der Sonne sitzen.
Das ist wunderbar, denn heute abend hätte sie so gern mal wieder nette Gesellschaft. Und je näher sie nach Compostela kommt, um so wichtiger werden ihr plötzlich persönliche Kontakte. Irgendwie stellt sie es sich schön vor, nicht allein in Compostela ankommen zu müssen.
Markus winkt ihr von weitem zu, und sie verabreden sich zum Abendessen. Er sagt, daß in der Herberge auch noch Uli und Inge sind, die er vor ein paar Tagen kennengelernt hat, und so treffen sie sich zu viert zum Essen.
Samantha ist etwas früher am vereinbarten Treffpunkt und geht den dreien die paar Schritte bis zur Herberge entgegen. Als sie in den Vorraum kommt, ist niemand zu sehen. Dafür liegt aber das Gästebuch der Herberge aufgeschlagen auf dem Tisch. Ein Blick hinein verrät ihr, daß Maria und Tatjana gestern hier waren — schade, daß sie sie nicht angetroffen hat. Sie wäre zu gern mit Maria gemeinsam nach Compostela „einmarschiert“, hat sie doch eine so große Rolle auf ihrem Weg gespielt. Aber das Leben hat anders entschieden.
Dann tauchen die drei auch schon auf. Markus hat nicht zu viel versprochen; Inge und Uli machen die Runde für heute abend perfekt, und der Abend wird so, wie sie ihn sich vorgestellt hat, lustig und gesellig.
Die Frage WOZU
Die Frage nach dem „WOZU“ unserer Gedanken, Worte und Handlungen bringt uns unmittelbar in Kontakt mit unseren Absichten und Zielen.
Sie liegt entspannt in ihrem Bett und läßt den gestrigen Abend noch einmal an sich vorüberziehen. Schön war es, sie haben alle vier ihre Lebensfreude gelebt.
Bald wird Samantha ihr Ziel erreicht haben. Es sind jetzt nur noch zwei oder drei Tage und nur noch vierzig von achthundert Kilometern.
Sehr lustig war es gestern abend zu erfahren, über welche Querverbindungen sie so voneinander gehört hatten, ohne sich je begegnet zu sein. Ein flüchtiger Kontakt mit einem von Zahnschmerzen geplagten Mann, dem Samantha mit einem Heilmittel ausgeholfen hatte, hatte intensiven Kontakt mit den anderen gebracht. So hörten sie von der „Frau mit dem Heilmittel“, ohne sie zu kennen, während Samantha Uli und Inge von Erzählungen der beiden jungen Mädchen Anna und Vanessa kannte. Es ist ein verwobenes Netz auf dem Camino und macht einmal mehr deutlich, daß keiner allein geht, selbst wenn er oder sie dies glaubt. Wir alle sind mit allen anderen auf dieser Welt verbunden — selbst wenn wir es nicht wissen.
Samantha rollt sich aus dem Bett und beginnt ihre Morgengymnastik. Heute mit besonderer Achtsamkeit und mit großem Genuß. Das bevorstehende Ende dieser Reise macht sie wehmütig, und sie merkt, daß sie am liebsten alles festhalten würde, indem sie heute einfach gar nicht geht. Aber das ist natürlich nicht das Richtige, weil ja auch das Gehen zu einem Teil von ihr geworden ist, und auch das möchte sie nicht missen. Im Reiseführer ist die heutige Etappe als die „ungeduldige Etappe“ gekennzeichnet. Das kann sie gar nicht verstehen, wie könnte sie ungeduldig sein, wenn doch bald alles zu Ende ist? Sie macht doch innerlich keinen Haken hinter diese Reise! Aber der Autor des Reiseführers wird sicherlich andere Erfahrungen gemacht haben.
Als sie dann vor dem Hostal steht und nach dem nächsten gelben Pfeil sucht, ist sie mit allem zufrieden. Sie wird heute ganz langsam gehen und noch einmal jeden Schritt bewußt erleben und dann einfach schauen, wohin sie ihre Füße bringen und wo sie die vorletzte Nacht haltmachen wird.
Wenngleich sie von einer satten Landschaft begleitet wird, empfindet sie heute die kleinen Dörfchen auf dem Weg nicht besonders einladend. So läuft
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