So nah am Leben
fühlst.“ Wieder lachen alle, und das Spielchen geht weiter, bis jede ein Stückchen genommen hat und nur noch eines übrigbleibt. „Wohl doch keine Sucht — nur ein Rest“, jammert nun die Erste und nimmt sich das übriggebliebene Stück.
Voilà, da haben wir es wieder, ihr Tagesthema. Innerhalb einer halben Minute dreimal derselbe Begriff: SUCFiT. Ja, Samantha hält dieses Thema für bedeutsam genug, um sich einen ganzen Tag lang Gedanken darüber zu machen und zu sehen, was sich dabei alles zeigen will und wird.
„Hi“, begrüßt sie eine Stimme hinter ihrem Rücken. Es ist Markus. Das erste Mal haben sie sich am Cruz de Ferro getroffen, wo sie gemeinsam den Bus voller Pilgertouristen bestaunt haben, danach noch ein paar Mal bei anderen Gelegenheiten. Samantha findet Markus sehr sympathisch, und sie haben bereits viel miteinander gelacht. Sie mag seine Art von Humor.
Sie reden ein paar Sätze und finden dabei heraus, daß sie heute das gleiche Etappenziel haben: Arzúa. Markus geht weiter. Sie verlängert ihre Pause und genießt jede einzelne Minute.
Der weitere Verlauf des Weges geht durch einen Wald. Die Baumkronen sind nicht so dicht, so daß die Sonne gefiltert auf den Weg scheinen kann und in der Luft bizarre Strukturen hinterläßt. Ein wunderschöner Anblick. Der Farn am Waldrand ist meterhoch und setzt mit seinen verschiedenen Farbtönen grünbunte Akzente. Sie gibt sich allem bedingungslos hin.
Bis ihr das Thema wieder einfällt. Und dazu kommen ihr Gedanken wie: „Sucht ist Flucht“ oder „Sucht hat etwas mit suchen zu tun“. Oder suchen wir vielleicht sogar die Flucht? Alles ein bißchen chaotisch und oberflächlich, was ihr da einfällt, und sie merkt, daß schon wieder ein kleines Verwirrspielchen ihres Verstandes im Gange ist.
Noch mal ganz achtsam und langsam und ohne jegliche Verwirrung. Flucht ist schon einmal ein ganz guter Einstieg. Fliehen wir vor etwas oder zu etwas?
Zu etwas erscheint ihr erst einmal einleuchtend. Sucht hängt ja immer mit etwas zusammen, das uns „süchtig“ macht. Also fliehen wir in der Tat zu etwas hin. Wir begeben uns dorthin oder sogar dorthinein. Und es erscheint ihr so, als suchten wir dort Schutz oder Zuflucht — also liegt sie bei Flucht gar nicht so falsch.
Wenn wir also irgendwo oder bei irgend etwas Schutz suchen, kann es dann sein, daß wir dort auch gern ein Stückchen unserer Verantwortung loswerden wollen? Und daß wir diesem Etwas gleichermaßen auch noch Macht über uns in die Hand geben? Na klar, wir behaupten doch, daß wir nichts dagegen tun könnten, daß wir einfach müßten, so als wären wir fremdgesteuert.
Also geben wir Verantwortung und damit gewissermaßen auch Macht ab. Und dann wundern wir uns, wenn wir nicht mehr Herr oder Frau unseres Lebens sind. Wir sind es so sehr nicht mehr, daß wir weiterhin behaupten, daß dieses andere „Etwas“ auch noch schuld sei. Schuld daran, wie unser Leben verläuft oder wie wir uns verhalten und fühlen. Und wir übersehen dabei, daß wir es sind, die diese Verantwortung und Macht aktiv aus den Händen geben. Wir fliehen vor der Verantwortung, die wir eigentlich selbst übernehmen müßten. Wir fliehen, indem wir die Schuld abschieben an dieses „Etwas“, das uns süchtig gemacht hat.
Wenn Sucht nun auch etwas mit „suchen“ zu tun hat, was suchen wir dann?
Vorhin war sie gedanklich beim Schutz hängengeblieben. Wovor suchen wir Schutz? Das wird wohl bei jedem Menschen anders sein, denkt Samantha, und dann bekommt sie das Gefühl, daß sie bereits wieder nahe am Thema Angst ist, und sie kann auch die Verbindung zum Thema Realität spüren.
Haben „Süchtige“ oder „Suchende“ vielleicht Angst vor der Realität und suchen Schutz bzw. Zuflucht bei irgend etwas , das dann die Schuld auf sich nehmen soll, weil sie die Verantwortung nicht selbst tragen wollen? Und weil sie ihre Verantwortung dauerhaft dort lassen wollen, müssen sie auch diesem „Etwas“ dauerhaft begegnen. Das macht dann im üblichen Sprachgebrauch „süchtig“.
Bei diesen Gedanken ist Samantha richtig außer Atem gekommen. Sie ist immer wieder überrascht, wie sich jedes einzelne, bereits durchdachte Thema ins andere fügt und ein komplexes Ganzes bildet.
Samantha versucht, bewußt zu atmen, damit ihr Puls wieder ruhiger wird. Dabei fällt ihr auf, daß sie bereits kurz vor Arzúa ist und ihre Tagesetappe fast geschafft hat.
In Arzúa angekommen, beschleicht sie schon wieder so ein ungutes
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