So nah am Leben
an die Kanzel. Sie erklärt den Ablauf und macht dann eine Probe für einen Wechselgesang zwischen Priestern und Gemeinde. Sie singt mit ihrer klaren Stimme die Passagen vor, die die Gemeinde singen soll.
Der Himmel öffnet sich wieder bei ihrem Gesang, und Samanthas Ergriffenheit steigert sich ins Unerträgliche. Die Tränen laufen nur so aus ihr heraus und spülen die Anspannung des ganzen Weges hinweg.
Die Orgel füllt die Kathedrale mit Musik, mehrere Priester halten die Andacht in verschiedenen Sprachen, die Gemeinde singt, der Nonnenchor singt, die Orgel spielt weiter, und sie erlebt das alles mittendrin und doch wie aus weiter Ferne. Physisch ist sie präsent — spirituell in einer anderen Sphäre.
Auch dort ist sie angekommen.
Loslassen
Loslassen können wir nur,
wenn die Gedanken, Gefühle oder Situationen
wirklich in der Gegenwart gelebt wurden.
Alles andere aus der Vergangenheit
tragen wir als Erinnerung mit uns herum,
bis wir uns entschließen, es zu leben.
Samantha sitzt im warmen, weißen Sand am Strand des Atlantiks. Hier in Cap Finesterre — am Ende der Welt — ist die Wanderung erst wirklich zu Ende. An diesem Strand gibt es auch die Jakobsmuscheln, deren Besitz in früheren Zeiten der Beweis dafür war, daß der Weg tatsächlich zurückgelegt wurde.
Mit dem Blick auf den Ozean läßt Samantha alles noch einmal Revue passieren.
Als die Messe in Santiago de Compostela zu Ende war, gab es eine richtige Begrüßungs- und für manche auch bereits eine Abschiedsarie. Die Erleichterung, die Freude und die vielen Erfahrungen waren allen ins Gesicht geschrieben. Am Abend haben sie sich zu einem großen Abschiedsessen getroffen und ein letztes Mal miteinander gegessen und getrunken.
Sehr früh am nächsten Morgen ist Samantha mit dem Bus hierher nach Cap Finesterre gefahren. Es sind fast einhundert Kilometer bis hierher, und die ganz Hartgesottenen laufen auch diese Strecke noch. Das stand für sie nicht mehr zur Diskussion.
Als sie aus dem Bus stieg, begegnete ihr als erstes Julia, eines ihrer „Kinder“ beim Paella-Essen in Carrión de los Condes. Ach, wie schön, daß sie sich noch einmal treffen! Sie hat sie in ihr Herz geschlossen, und die letzten Stunden, die ihr noch vor ihrer Abreise blieben, verbrachten sie gemeinsam hier am Strand.
Samantha brachte Julia zum Bus und sah direkt an der Haltestelle eine Bar mit einer Terrasse. Wie praktisch, von dort aus kann man sehen, wer ankommt und wer abfährt. Kaum daß sie die Terrasse betritt, sieht sie an einem der Tische Maria sitzen. Das Leben meint es wirklich gut mit ihr.
Da Cap Finesterre eine schmale Landzunge ist, gibt es einen Strand für den Sonnenaufgang und einen Strand für den Sonnenuntergang. Samanthas Lieblingsstrand ist der „Abendstrand“ geworden. Hier gibt es eine kleine Süßwasserquelle, die aus dem Felsen am Ufer direkt in die Wellen des Ozeans fließt. Nicht mehr als ein Rinnsal schlängelt sich durch den Sand, bis es in die Gischt der Wellen eintaucht. Ein echter Kraftplatz, der die Elemente miteinander vereint.
Heute ist das Panorama, das sich ihr darbietet, besonders faszinierend. Die Wolken hängen so tief, daß sie die Felsen einhüllen und wie Nebelschwaden erscheinen. Das hat etwas Mystisches. Samantha sitzt seit Stunden am Strand, ohne zu denken. Sie ist einfach nur da — hat keinen Plan, keine konkreten Absichten.
Tino setzt sich neben sie. Sie kennen sich kaum und haben dennoch ein sehr tiefgehendes Gespräch. Er schenkt ihr unvermittelt seinen Talisman mit den Worten: „Ich dachte mir, das ist das Richtige für eine schöne Schamanin.“
Samantha ist gerührt und beeindruckt und kauft noch am Nachmittag eine Kette für dieses kostbare und unerwartete Geschenk und legt sie sich um ihren Hals. Auch solche Dinge geschehen auf dem Camino.
Cap Finesterre ist ein schöner Abschluß dieser Reise. Ursprünglich wollte sie viel allein sein, um die Essenzen ihrer Erfahrungen noch einmal herauszuarbeiten. Aber es sind so viele bekannte Pilger hier, daß alles anders kommt. Wann immer sie durch den Ort geht, am Strand sitzt oder in der Bar etwas trinkt, tauchen Menschen auf, mit denen zu sprechen eine so große Bereicherung ist. Nach fünf Wochen mehr oder weniger mit sich allein, genießt sie die sozialen Kontakte zutiefst. Es verbindet sie etwas miteinander, das Außenstehende nicht erkennen können und das letztendlich vielleicht gar nicht wirklich zu erfassen ist. In jedem Fall herrschen eine
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