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So nah am Leben

So nah am Leben

Titel: So nah am Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inaqiawa
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letzten Nacht das sogenannte „Camino-Feeling“ nicht gerade verstärken wird, findet sie es angemessen, diesen Abend zu etwas Besonderem zu deklarieren und sich den gesamten Luxus zuzugestehen.

Ankommen

    Der Genuß des Ankommen
    währt nur einen kurzen Moment.
    Ankommen ist ein Ziel,
    das im Grunde nicht existiert —
    denn wir sind in jeder Sekunde
    unseres Lebens bereits angekommen!

    Samantha ist so aufgeregt.
    Mitten in der Nacht wacht sie in diesem wunderbar klimatisierten Zimmer auf, und dann liegt sie wach. An Einschlafen ist nicht mehr zu denken. Draußen ist es stockdunkel. In ihr herrscht ein bunter Cocktail an Gefühlen.

    Ein Teil in ihr ist stolz auf sich, weil sie diesen langen Marsch geschafft hat. Bis auf die letzten zwölf Kilometer hat sie eine Strecke von fast achthundert Kilometern bewältigt.
    Ein anderer Teil in ihr ist wehmütig, weil sie Abschied von dieser Art Leben nehmen muß. Es war ein Leben mit viel Unbeschwertheit und Leichtigkeit. Fünf Wochen lang mit einem Rucksack unterwegs, der nur das Nötigste enthält, und nichts hat ihr gefehlt. Frei von den alltäglichen Aufgaben und Verantwortungen zu Hause.
    Ein weiterer Teil in ihr ist traurig, weil es so aussieht, als müßte sie heute allein in Santiago ankommen — ohne ein vertrautes Gesicht, mit dem sie ihre Freude teilen darf.
    Ein Teil von ihr ist zuversichtlich, weil in ihr die Überzeugung lebt, daß sich in ihrem Leben etwas ändern wird und die vielen Erfahrungen und Erkenntnisse neue Spuren in ihrem Leben formen werden. Ein Teil von ihr ist aufgeregt, weil ein Plan umgesetzt und ausgeführt ist.
    Ein anderer meldet sich mit einer tiefen seelischen Rührung, etwas Feierliches ist zu spüren.
    Ein Teil von ihr ist voller Erwartung auf den Moment, in dem sie das Ortsschild Santiago erreicht — welches Gefühl wird dann wohl im Vordergrund stehen?

    Ein Teil von ihr sprüht vor Lebensfreude und möchte am liebsten schon das nächste Projekt planen.
    Ein Teil von ihr mahnt zur Vorsicht und erinnert an die Schmerzen in den Füßen.
    Alles zusammen fühlt sich wie ein großer bunter Ringelreihen an, und alles in allem geht es ihr prächtig damit. Ihre Gefühle sind in diesem Moment so vielfältig wie das Leben selbst.

    Ein letztes Mal vor dem Ankommen das Morgenritual. Ein letztes Frühstück. Eine letzte Strecke wandern vor dem Ankommen. Über mehrere Wochen lang solch ein Ziel vor Augen zu haben, spornt an, hat sie vorwärtsgetrieben, gezogen und ermutigt.
    Und ohne zusammenhängende Sätze zu bilden, formt sich immer wieder dieses eine Wort in ihr: ankommen. Sie fragt sich, warum dieses Wort plötzlich so eine große Bedeutung für sie hat. Ist sie nicht jeden Abend irgendwo angekommen? Was heißt es denn überhaupt „anzukommen“? Noch ein paar Stunden, dann wird sie es wissen.

    Am liebsten würde sie die Schritte zählen, die sie von jetzt an noch zu gehen hat, aber das findet sie dann doch ein bißchen übertrieben. Also gibt sie sich damit zufrieden, die Sonne und die Luft tief einzuatmen.
    Sie ist erst ein paar Minuten gegangen, als sie einen Kirchturm erblickt. Oh, vielleicht ist das ja die letzte Kirche vor Santiago, da möchte sie dann doch noch einen Stempel für ihren Pilgerausweis abholen.

    In der kleinen Kirche ist es dunkel. Ein Moment der Andacht ist jetzt genau das Richtige. Sie geht ein letztes Mal in die vorderste Reihe und schließt die Augen. Es ist still hier. Die dicken Mauern schützen. Sie schützen vor allem — manchmal auch vor dem Weitergehen oder vor dem Ankommen, vor dem Allein-Ankommen schützen sie leider nicht. Die Traurigkeit darüber drängt sich in den Vordergrund. Eine Stimme in ihr sagt: „Komm, stell dich nicht so an, ist doch nicht so schlimm.“ Aber die Traurigkeit läßt sich nicht abwimmeln, sie macht sich bemerkbar und fordert ihr Recht. Samantha kann eine tiefe Betroffenheit in sich spüren. Es ist nicht allein die Traurigkeit, da hat sich noch eine andere Tür geöffnet.
    Es ist die Tür zu ihrer Spiritualität, zu ihrem „Höheren Selbst“, zu jenem Anteil in ihr, der der Göttin gleicht. Für einen kurzen Augenblick entsteht ein heiliger Moment. Dann scheint sich die Tür in ihr wieder zu schließen, und nur der Eindruck davon bleibt zurück.

    Es wird Zeit weiterzugehen, wenn sie pünktlich in Santiago ankommen will. Jeden Mittag um zwölf Uhr wird im Hauptschiff der Kathedrale eine Messe für die angekommenen Pilger abgehalten. Heute möchte sie dabei sein.
    Vor der

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