So nah am Leben
Kirchentür blendet sie die Sonne. Sie geht einen Schritt in den Schatten, um ihren Augen die Möglichkeit zu geben, sich wieder an die veränderten Lichtverhältnisse anzupassen, als ihr noch etwas anderes als die Sonne direkt ins Gesicht strahlt.
Isabels freundliches Lachen empfängt sie. „And I thought, I had to reach Compostela on my own.“ Die Mexikanerin fällt Samantha um den Hals. Vor ein paar Tagen sind sie ein Stück miteinander gegangen und hatten sich so viel zu erzählen, als wären sie alte Freundinnen.
Die Göttin hat ihre Traurigkeit gesehen und gehandelt. Sie hat dafür gesorgt, daß sich der Weg zweier Frauen kreuzt, die beide das gleiche Bedürfnis haben. Sie sehen sich an und sind glücklich. Die nächsten Kilometer gehen jetzt gleich viel schneller vorbei.
Sie erzählen sich, was sie in der Zwischenzeit erlebt haben, und als sie in San Marcos - Monte do Gozo ankommen, werden sie beide still. Die letzte Station vor Santiago gleicht einem Flüchtlingsauffanglager. Eingezäunt und mit barackenartigen Bauten versehen, liegt plötzlich der Berg vor ihnen. Es sieht gruselig aus, und Samantha ist so dankbar, daß sie die letzte Nacht vor der Ankunft nicht hier verbringen mußte.
Von hier an haben sie noch eine gute Stunde Fußweg, und je dichter sie an Santiago herankommen, desto stummer werden sie. Samantha spürt in sich die Tränen aufsteigen und kann nicht sagen, warum. Sie wendet sich zu Isabel und sieht, daß diese ihre schon gar nicht mehr zurückhält. Richtig erklären können sie es beide nicht. Vielleicht ist dies das Gefühl anzukommen: Eine tiefe Berührung unserer Seele, verbunden mit einer Sehnsucht, die nicht sogleich benannt werden kann. Sie lassen es beide geschehen und gehen die letzten „Meter“ bis zum Ortsschild, ohne zu sprechen.
Und dann können sie es sehen: das Ortsschild von Santiago de Compostela. Vorher noch einmal ins Taschentuch geschnäuzt, und dann ist die Sentimentalität plötzlich verflogen. Große Freude macht sich in ihnen breit und, wie Millionen andere Pilger auch, haben sie das Bedürfnis, diesen bedeutsamen Augenblick auf einem Foto festzuhalten. Samantha ist angekommen!
Nur einen kurzen Moment später lautet der Satz schon wieder ganz anders. Sobald Samantha den nächsten Schritt in Richtung Kathedrale macht, „war“ sie an der Stadtgrenze angekommen. Der Moment des Ankommens soll also jetzt schon wieder vorbei sein?
Sie ist fünf lange Wochen mit Blick auf diesen kurzen Moment gegangen? Insbesondere in der letzten Woche gab es kaum ein Gespräch mit anderen Pilgern, in dem das Ziel, dieses Ankommen, nicht erwähnt wurde und eine äußerst große Rolle spielte. Es kann doch irgendwie nicht angehen, daß das alles gewesen sein soll — dieser eine Moment!
Aber so ist es. Der Genuß des Ankommens währt nur diesen einen kurzen Moment. Ankommen ist ein Ziel. Denn in jedem nächsten Moment kommen wir wieder irgendwo an. Oder nicht? Vielleicht gibt es das Ankommen als solches ja gar nicht.
Jetzt öffnet sich ihre innere Tür erneut, und wie aus einem Wissen heraus durchströmt sie der Gedanke: „Ein Ankommen existiert nicht — wir sind bereits in jeder Sekunde unseres Lebens da!“
Dort, wo wir sind, sind wir angekommen — ein anderes, ein nochmaliges oder auch ein zusätzliches Ankommen ist unnötig und wird nur vom Verstand für seine eigenen Zwecke produziert.
Sie ist angekommen, in jedem einzelnen Moment ihres Lebens ist sie bereits angekommen. Das zieht einen ganzen gedanklichen Rattenschwanz hinter sich her, dem sie in diesem Augenblick aber nicht nachhängen kann und möchte.
Sie schaut zu Isabel hinüber, und sie sind sich einig, jetzt geht es ab in die Altstadt. Erst zum Pilgerbüro und dann in die Kathedrale zur Messe.
Als Samantha in die Kathedrale kommt, ist diese schon fast bis auf den letzten Platz gefüllt, obwohl es erst halb zwölf ist. Ihre Augen suchen die Bankreihen nach einem freien Platz ab, und dann fängt ihr Herz an zu hüpfen. Samantha überkommt ein Gefühl von „Nachhausekommen“, und eine unbeschreibliche Sehnsucht schwingt mit.
Sie sieht Markus, Vanessa und Anna, Uli und Inge, Judith ist da und Melanie und die Mäuse-Anna auch und noch so viele andere bekannte Gesichter. Ihr Kopf produziert ein erneutes Ankommen, und die Energie in der Kathedrale unterstützt dies alles. Es ist feierlich, es ist ergreifend, es ist auf eine gewisse Art sogar berauschend. Sie fühlt sich wie in Trance.
Dann tritt eine Nonne
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