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So nah am Leben

So nah am Leben

Titel: So nah am Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inaqiawa
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gerade?

    Der Wirbel wird zu einem konkreteren Gefühl. Eine Mischung aus Dankbarkeit, Hingabe, Güte und Gnade breitet sich in ihren Adern aus. Jede ihrer Zellen wird davon erfaßt. Die Tränen schießen ihr in die Augen, und sie weiß nicht, was sie davon halten soll. Es ist auch keine Zeit, um darüber nachzudenken, ihr Kopf ist ausgeschaltet. An dessen Stelle tritt eine nie dagewesene Intensität ihres emotionalen Erlebens. So kniet sie und vergißt die Welt um sich herum.

    Als sie wieder denken kann, ist sie allein in der kleinen, schummrigen Kapelle. Sie sieht sich um und entdeckt einen Lichtstrahl, der durch die Mitte des Daches fällt. Sie ist benommen und überwältigt von der Intensität ihrer Gefühle, und sie kommt sich vor, als hätte sie eine Erscheinung gehabt.

    Langsam richtet sie sich auf, ihre Knie schmerzen vom harten Holz, aber ihr Rücken ist aufrecht — innerlich wie äußerlich. Sie hat keinen Namen für das soeben erlebte Gefühl — noch nicht — , und dennoch ist sie sich sicher, daß es die Bedeutung einer Vorbereitung hat. Auf was, das kann sie nicht sagen. Es ist eine Vorahnung.

    Draußen wartet Maria auf sie. Samantha ist sich nicht sicher, ob sie von alledem etwas mitbekommen hat. Wie es ihr wohl in der Kapelle ergangen ist? Sie reden nicht, sie gehen schweigend nebeneinander den Weg zurück, vorbei an anderen Pilgern, vorbei an den verdorrten Feldern.
    Als sie ihr Tagesziel erreichen, trennen sich ihre Wege — sie reden immer noch nicht und sagen nur: „Buen camino!“, so wie es alle hier auf dem Weg tun, wenn sie sich treffen oder aneinander vorbei-laufen. Sie wünschen sich einen guten Weg. Jede geht ihren eigenen Weg auf diesem „Camino“.

    Samanthas Hotel liegt in der Mitte des kleinen Ortes. Sie ist erschöpft, müde und gänzlich durchgeschwitzt. Die tägliche Dusche oder hin und wieder mal ein ausgiebigeres Bad in einer Badewanne gehören zu ihrem Luxus. Auch daraus ist bereits ein Ritual geworden. Zimmer beziehen, Klamotten runter, duschen und aufs Bett fallen — erst dann ist wieder Zeit zum Denken.
    Kaum liegt sie auf ihrem Bett, fällt ihr das heutige Thema wieder ein. Hat dieses intensive Gefühl in der Kapelle etwas mit dem Thema „Einsamkeit“ zu tun?

    Sie hört in sich hinein und bemerkt, daß sich die beleidigte Stimme in ihr offensichtlich nicht mehr zu Wort melden will. Eine gute Voraussetzung, um den Dialog wieder aufzunehmen.

    An welcher Stelle war sie stehengeblieben? Erlebte Einsamkeit als aktive Rache an der Gesellschaft, weil diese nichts für sie tut... und bei der Frage, was sie selbst in solchen Situationen für sich tue... oder tun könnte. Sie ruft sich ihre letzte Begegnung mit einem einsamen Menschen in Erinnerung und kann tatsächlich einen leisen Vorwurf an die Welt spüren, gepaart mit einem Hauch von Selbstmitleid.
    Worin liegt der Unterschied zwischen Einsamsein und Nichteinsamsein? Was ist heute anders bei ihr, fragt sie sich und stellt fest, daß sie früher die Verantwortung gern anderen übergeben hat, während sie heute selbst Verantwortung übernimmt.
    Mehr noch als vor vielen Jahren ist sie heute der Überzeugung, daß sie eingebettet ist in ein großes Ganzes. Sie übernimmt die Verantwortung für ihre Gedanken, ihre Worte und ihre Handlungen, und es geht ihr gut damit. Erst dadurch hat sie wirkliche Freiheit erhalten. Die Freiheit, über ihr Leben zu entscheiden, die Freiheit, sich mit allem verbunden zu fühlen.

    Langsam erkennt sie den Zusammenhang zwischen Einsamkeit und Rache, zwischen Einsamkeit und der Verweigerung, Verantwortung zu übernehmen, zwischen Einsamkeit und Zwängen. Sie schließt ihre Augen und läßt alles in sich nachklingen. Mit dem Gefühl von heute nachmittag hat das hier nichts zu tun, das scheint ein anderes Thema zu sein. Mit diesen letzten Gedanken schläft sie ein.

Demut

    Demut
    ist eine Form der Dankbarkeit
    gegenüber der Schöpfung
    und den Fügungen des Lebens.

    Sie wacht mitten in der Nacht auf. Aus den Nachbarzimmern dringen laute Geräusche. Es ist wie in einer Herberge. Auf der linken Seite schnarcht jemand herzerweichend und in sonoren Tönen und über ihr vergnügt sich ganz offensichtlich ziemlich hemmungslos ein Pärchen.

    Sie blickt auf die Uhr. Es ist erst kurz nach drei. Da sie bereits am frühen Abend über ihre philosophischen Gedanken weggeschlummert war, fällt es ihr jetzt schwer, wieder einzuschlafen. Selbst Meditation hilft ihr nach mehreren gescheiterten Versuchen

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