So nah am Leben
Widerstand erfährt. Viel weniger, als sie erwartet hat. Es ist noch früh, als sie das Hotel verläßt. Heute morgen legt sie einen sehr langsamen Schritt ein, der sich wie von allein einstellt. Sie läßt es geschehen und beobachtet dabei ihren Körper. Es fühlt sich an, als gäbe es eine Reihenfolge, in der sich ihr Körper aus dem Schlaf ins Leben zurückbringt. Sie folgt seinen Anordnungen und schreitet langsam aus der Stadt heraus.
Es zeigt sich, daß es wunderbar ist, die ersten Kilometer ohne Frühstück zu gehen. Ihre Powermischung ersetzt in den ersten Stunden alles und führt ihrem Körper zu, was ihm offensichtlich guttut. Erst wenn sie auf der Etappe im nächsten Ort auf eine Bar stößt, wird sie sich ein Frühstück gönnen. Heute ist das bereits nach nur wenigen Kilometern der Fall. Nach dem Frühstück zieht sie ihr Thema für den heutigen Tag aus dem Säckchen: EINSAMKEIT — sehr spannend. Dieses Thema hat sie für sich bereits vor vielen Jahren intensiv angefaßt. Sie ist gespannt, welche Bedeutung dieses Thema nun für sie auf diesem Weg bekommen wird.
Alte Gedanken fliegen ihr durch den Kopf, und auch ihr Herz meldet sich zu Wort. Einsamkeit ist so vielschichtig. Und wie grenzt sie es von „Alleinsein“ und „Sich-allein-Fühlen“ ab?
Ist Einsamkeit positiv oder negativ?
Einsamkeit tut weh, zuckt es ihr durch den Kopf. Sie erinnert sich daran, wie schmerzhaft ihr erster intensiver Kontakt mit ihrer persönlichen inneren Einsamkeit war. Sie konnte das Wort damals kaum aussprechen, ohne zu weinen, so tief saßen das Gefühl und der damit verbundene Schmerz. Er nahm einen großen Raum in ihr ein. In diesem Raum hatten sich ihre Traurigkeit, die ganze Enttäuschung ihres Lebens und all die erfahrenen Verletzungen ausgebreitet.
Sie hatte nach und nach immer mehr schmerzliche Erfahrungen in diesen Raum gesperrt und wollte nichts mehr mit ihnen zu tun haben. Nur nicht hinsehen — nur nicht mehr daran rühren und nur den Schmerz nicht mehr fühlen müssen. So hatte sich dieser Raum im Laufe ihres Lebens angefüllt, und jedesmal wenn etwas heraus wollte, verstärkten sich die Argumente dagegen um so mehr. Manchmal tat sie sogar so, als gäbe es diesen Raum in ihr gar nicht. Während einer Therapie meldeten sich dann alle Gefühle wieder zu Wort. Das war in emotionaler Hinsicht eine sehr harte Zeit.
Während sie so in ihre Gedanken eintaucht, verändert sich die Beschaffenheit des Weges. Ein steiniger Aufstieg breitet sich vor ihr aus. Faustgroße runde Kiesel, ausgewaschen vom jahrelangen Regen, bilden eine Art Furt. Sie hat sich immer noch keinen Wanderstab gekauft, denkt sie, warum wohl nicht?
Ihre Füße suchen bei jedem einzelnen Schritt nach Halt. Dieser steile Weg führt sie in die windige Höhe von Puerto del Perdön, direkt auf die Windräder eines navarresischen Windkraftwerkes zu. Aber bis dahin dauert es noch einige Kilometer, und sie beschließt, sich wieder in ihre Gedanken zu vertiefen, damit sie die Anstrengung des Weges nicht so vordergründig erleben muß.
Einsamkeit, denkt sie wieder und erinnert sich an einen Ausspruch aus der Zeit ihrer Ausbildung zur Psychologin. „Gelebte — ja fast demonstrierte Einsamkeit — ist der Ausdruck von Rache an der Gesellschaft.“
Was für ein Ausspruch! Diese Aussage ist ganz schön hart. Einem einsamen Menschen, der ohnehin schon unter seiner Einsamkeit leidet, auch noch zu unterstellen, diese wäre ein aktiver Racheakt! An diesem Gedanken bleibt sie innerlich hängen. Das Wort „Rache“ kreist in ihrem Kopf, und es gelingt ihr nicht, weitere Gedanken zuzulassen.
Ein mulmiges Gefühl durchzieht sie. Kann Einsamkeit Rache sein? Dann taucht sie wieder in die Erinnerung an ihre eigene Einsamkeit ein. An wem hätte sie sich damals rächen wollen und wieso? Langsam kommt ihr eine leise Ahnung, daß an der Aussage doch etwas dran sein könnte. Wie waren die Situationen, in denen sie sich einsam fühlte? Hatten sie immer etwas mit anderen zu tun? In der Tat fühlte sie sich häufig im Stich gelassen, nicht gesehen oder nicht verstanden. Und wie zeigte sie sich in ihrer Einsamkeit? Na, traurig halt, gemäß ihrer Situation. Einsam, ohne andere, und traurig. Soll das etwa eine Form von Rache sein?
Jetzt überschlagen sich ihre Gedanken. Von wem fühlte sie sich denn im Stich gelassen, nicht gesehen oder verstanden? — Natürlich immer von den anderen. Und sie selbst ? Wie ist sie in diesen Situationen mit sich selbst
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