So nah am Leben
einem Wespennest, während die aufgehende Sonne die einzelnen Häuser in ein warmes, weiches Licht taucht. Es sieht so unberührt aus und weckt in Samantha Gefühle von Kraft und Integration. An diesem Ort stimmt einfach alles — es dürfte kein bißchen anders sein.
Sie befindet sich ganz allein hier, keine Menschenseele weit und breit. Ihr Herz ist vollkommen offen für all die Schönheit auf diesem Weg, und sie hat vergessen, daß sie vor nur kurzer Zeit noch in ihrem Selbstmitleid aufzugehen geneigt war. Und noch ehe sie über diese seltsamen Stimmungsschwankungen nachdenken kann, führt sie der Weg durch dieses wunderschöne Wespendorf und immer weiter durch die Felder, bis sie an ihren ersten Rastplatz gelangt.
Seit einer Stunde sitzt sie nun in dieser Bar. Im Hintergrund läuft kraftvolle, klassische Musik. Eine Erfahrung, die neu für sie ist. Bis jetzt kannte sie die spanischen Bars nur mit lauter Radiomusik oder mit einem kreischenden Fernseher. Innerlich dankt sie dem jungen Mann hinter dem Tresen für seinen guten Geschmack und genießt. Frisch gepreßter Orangensaft steht vor ihr auf dem Tisch. Hauchdünn geschnittenen Schinken hat sie bereits mit großem Appetit verzehrt. Sie schreibt an ihrem Tagebuch und nimmt sich dafür viel Zeit. Die angenehme Atmosphäre in dieser Bar macht es ihr unmöglich weiterzugehen.
Langsam hat der Pilgerstrom eingesetzt, und viele bekannte Gesichter sind bereits an ihr vorbeigezogen. In den letzten Tagen ist sie meist sehr früh gestartet und hat dann gemerkt, daß sie nach und nach von den nachfolgenden Pilgern überholt wurde. Sie kommt sich vor wie eine alte, langsame Frau am Ende einer Karawane. Und für einen kurzen Moment spürt sie so etwas wie den Ehrgeiz in sich, schneller sein zu wollen. Aber geht es bei diesem Weg überhaupt darum?
Sie hängt noch an diesem Gedanken, als Maria an ihr vorbeikommt. Obwohl sie sich nicht verabreden und Maria einen viel schnelleren Schritt als sie hat, treffen sie sich täglich. Sie beginnt zu ahnen, daß Maria auf diesem Weg für sie eine besondere Bedeutung hat, und ist sich sicher, daß die Zeit ihr diese Bedeutung offenbaren wird.
Bevor sie sich auch wieder auf den Weg macht, zieht sie noch ihr heutiges Thema. Als ihr Blick auf den winzigen Zettel vor sich fällt, überkommt sie die Erinnerung an ihr gestriges Erlebnis in der kleinen Kapelle. Auf dem Zettel steht: DEMUT.
Im selben Moment kann sie das Gefühl von gestern plötzlich benennen. Es war ein unglaublich intensives Gefühl von Demut, das sie in der Kapelle auf die Knie zwang.
Ihre Gedanken tauchen tiefer. Sie findet sich wieder in Gesprächen mit Babett, ihrer Reiki-Meisterin. Wie häufig hat Babett dieses Wort benutzt und dabei öfter mal schmunzelnd in ihre Richtung geschaut.
Sie gibt zu, daß ihr der Begriff nicht sehr geläufig ist. In ihrem Leben gab es bis jetzt dafür noch nicht viel Raum. Sie läßt das Wort noch einmal auf ihrer Zunge zergehen: D-e-m-u-t.
Was ist das?
Wie Demut sich anfühlen kann, das hat sie gestern für einen Moment erfahren dürfen, aber was ist Demut tatsächlich?
In ihrem Kopf bilden sich Assoziationen wie „Dankbarkeit“, „Gnade“ und „Zurücknahme eigener Vorstellungen“. Und sie verbindet demütig sein mit so etwas wie Glück, für das sie nichts getan hat. Eine Verbindung von Demut und Gottheit taucht in ihren Gedanken auf, und daran schließen sich die Gedanken „Demut und Natur“ sowie „Demut und Universum“ an.
Vielleicht ist es ja so, daß Demut dann auftaucht, wenn die Menschen durch die Geschehnisse des Universums zu Glück und Zufriedenheit gelangen. Wenn etwas so einfach erscheint, daß sie das Gefühl haben, nicht wirklich etwas zu diesem Glück beigetragen zu haben, sondern das Vorhandene nur zugelassen haben.
Vielleicht ist ja das ganze Universum voller Glück, Zufriedenheit und voller Liebe, und wir Menschen können überhaupt nichts dazu beitragen, außer es zu erleben und damit gleichzeitig auch weiterzugeben. Vielleicht brauchen wir „den Mut“, „die De-mut“, es einfach geschehen zu lassen.
Vielleicht müssen Menschen mutig genug sein, um daran zu glauben und darauf zu vertrauen, daß allen dieses Glück, diese Zufriedenheit und diese Liebe zustehen. Und vielleicht macht sie dann das Wissen um die Tatsache, daß es genau so ist, demütig, und wir können die Gnade erkennen, die darin liegt. Dann könnten wir die Dankbarkeit spüren, die sich daraus ergibt, und unsere eigenen
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