So nah am Leben
umgegangen?
Wieso sie mit sich ?, regt sich eine beleidigte Stimme in ihr. Die anderen, die anderen... die sollen doch... was sollen sie denn? Na ja, sie sollen sie behüten und nicht im Stich lassen, sie sollen sie sehen und auf sie und ihre Bedürfnisse eingehen... sie sollen sie verstehen... Und immer wieder ertönt die Stimme einer Art Beobachterin: Und du, was hast du in solchen Momenten für dich getan? Der beleidigte Teil in ihr versteht diese Frage nicht. Was kann sie denn schon für sich tun? Dieser beleidigte Teil in ihr beherrscht jetzt ihre Gedanken und bricht die Kommunikation bockig ab.
Sie blickt auf den Weg vor sich. Immer noch die Furt mit den handgroßen Kieseln, seit Kilometern, und immer bergauf. Ein Blick auf die Uhr verrät ihr, daß sie seit drei Stunden auf Kieseln läuft, und ein innerer Blick auf ihre Füße verrät ihr, daß das ganz schön mühsam war. Sie erwägt, eine Pause zu machen, und dabei merkt sie, daß sie dem Kamm bereits sehr nahe ist. Dieses letzte Stückchen bis auf den Bergrücken wird sie nun auch noch schaffen. Und oben wird sie sich dann ausruhen und vielleicht sogar ein bißchen im Schatten schlafen. Der Kamm ist ja eine Attraktion, vielleicht gibt es dort sogar eine Bar und etwas zu essen.
Sie denkt wie eine typische Touristin, und als sie oben angekommen ist, bekommt sie die Bestätigung dafür. Nichts! Nur Windräder, und der dazugehörige Wind bläst ihr um die Ohren — und wie!
An eine Rast ist nicht zu denken — hier oben ist es kalt, und es gibt keinen Schutz, keine Möglichkeit für einen gemütlichen Halt — sie ist auf einem Pilgerweg, nicht im Urlaub.
Und die Attraktion? Ein modernes Pilgerdenkmal aus Metall zeigt Pilger, die sich offensichtlich bezwingen und gegen den Sturm ankämpfen. Sie sehen müde und zermürbt aus. Obwohl nur aus Metall und schemenhaft, ist alles so deutlich dargestellt, als könne sie ihre Gedanken lesen. Dieses Denkmal zeigt die Wirklichkeit — sehr gelungen, denkt sie.
Dennoch macht sich heute zum zweiten Mal Enttäuschung in ihr breit. Das erste Mal, als die bockige und beleidigte Stimme in ihr die innere Kommunikation abgebrochen hat, und jetzt, weil sie nicht das bekommt, was sie will: eine gemütliche Pause. Und es ist jedesmal dieselbe Stimme, die die Oberhand gewinnt und in ihr ein Gefühl der Enttäuschung produziert.
Was hat Enttäuschung mit Einsamkeit zu tun?
Sie möchte so gern wieder in den inneren Dialog eintauchen, aber sie findet keine Resonanz in sich. Wenn Samantha nicht in sich eintauchen kann, dann möchte sie in die Natur rings um sich herum eintauchen. Trotz des starken Windes und der eisigen Kälte hier oben ist der Rundumblick überwältigend. Zu beiden Seiten des Bergrückens gibt das abfallende Gelände die Unterschiede der beiden Landschaften frei. Die Bergkette ist eine Klimascheide und zeigt deutlich die grüne Vegetation in Richtung Pamplona und die bereits ausgedörrte Landschaft in Richtung ihres Zieles: Puenta la Reina.
Auch wenn diese Bergkette nicht mit den Höhen der Pyrenäen vergleichbar ist, so ist der Weg doch ähnlich beschwerlich. Denn nun beginnt der Abstieg, und sie wünscht sich zum ersten Mal sehnlichst einen Wanderstab herbei. Der Geröllweg setzt ihren Gelenken zu. Wenn sie heute in Puenta la Reina ankommt, wird sie zuallererst einen Wanderstab kaufen, noch vor allem anderen — der Wanderstab muß jetzt unbedingt her.
Sie quält sich während des Abstiegs, ihre Füße schmerzen, und die Sonne brennt vom Himmel. Seit dem Frühstück hat sie keine Pause mehr gehabt.
Eine weitere Stunde Abstieg, und sie sieht mit großer Freude das Ortsschild von Uterga. Laut Reiseführer soll es hier eine „Bar con Bocadillos“ geben. Sie läßt sich in den unbequemen Stahlstuhl fallen. Den Rucksack für einige Zeit vom Rücken loszuwerden, ist eine Wohltat. Heute hat sie das Gefühl, die Gurte sitzen nicht richtig — er kommt ihr so schwer vor. Vielleicht liegt das aber auch daran, daß der Weg sie zwingt, mal mehr, mal weniger die Unebenheiten auszugleichen, was manchmal einer Art Hüpfen gleichkommt. Die ständige Bewegung des Rucksacks hat Scheuerstellen an ihren Schultern hinterlassen.
Nach einem Kaffee macht sie sich wieder auf den Weg. Die Bocadillos sahen nicht besonders verlockend aus. Sie konnte gut darauf verzichten, und in einer weiteren Stunde verspricht der Reiseführer eine nette kleine Bar — also auf nach Muruzábal.
Und wirklich, dort gibt es eine Bar mit einer
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