So nah am Leben
Nachthimmel aus und läßt sie für einen Moment ihre zitternden Glieder vergessen. In diesem Moment der völligen Schönheit durchziehen zwei Sternschnuppen den Nachthimmel. So anhaltend ziehen sie ihre Bahnen vor ihr, daß sie an die Weihnachtsgeschichte denken muß. Und dann brechen plötzlich die Tränen aus ihr heraus, und sie weiß nicht, ob es die Kälte, die Müdigkeit oder die Schönheit der Natur ist, die sie weinen läßt — vielleicht auch alles zusammen.
Ihr Weinen schüttelt sie durch, und ihre Gefühle geraten durcheinander. Der ganze Tag mit allen durchlebten Gefühlen kehrt in einem einzigen Moment zurück, und dazu überwältigen sie jetzt auch noch alle anderen Gefühle, die sie je in ihrem Leben erfahren hat. Es kommt ihr vor wie eine riesige kosmische Explosion. Das alles geht sehr schnell, und als der Schweif des Kometen verlischt, verlischt auch die Explosion in ihr. Zurück bleiben ein tiefes Beben und die Gewißheit, daß sie ein Teil des ganzen Geschehens auf diesem Planeten ist.
Völlig außer Atem steigt sie den Berg wieder hinauf und entschließt sich, den Rest der Nacht in dem ungeliebten Schlafsaal mit all seinen Geräuschen zu verbringen, um vielleicht doch noch ein paar Stunden Schlaf zu bekommen. Als sie die Tür erreicht, merkt sie, daß diese von außen nicht zu öffnen ist.
Damit hat sie überhaupt nicht gerechnet, auch wenn es durchaus Sinn ergibt. Und jetzt? Sie kann doch nicht mitten in der Nacht einfach klopfen und alle aufwecken! Ratlos steht sie vor der verschlossenen Tür in Wind und Kälte, immer noch in kurzer Hose. Zurück auf den Kirchhof will sie nicht, schließlich ist sie von dort geflohen, und rein kann sie nicht, ohne alle zu wecken.
Und hier vor der Tür? Da steht ein Cola-Automat in der Ecke, und davor befinden sich ein paar Plastikstühle. Samantha rückt die Stühle so hinter den Automaten, daß der Wind ein wenig abgehalten wird. Dann versucht sie, den ausrangierten Schlafsack derart um sich zu wickeln, daß möglichst wenig Kälte an ihre Beine dringen kann. In dieser Position verharrt sie, inzwischen hellwach und völlig entnervt, bis um halb sechs der erste Pilger die Tür von innen öffnet.
Mut
Mut ist erforderlich,
um die sein zu wollen, die wir geworden sind.
Mut ist erforderlich,
um den Ehrgeiz aufzugeben,
eine andere sein zu wollen.
Kaum war die Tür offen, drängelt sie sich im Halbdunkel durch die erwachende Pilgerschar und sucht nach ihrer Matratze. Noch mal schnell die Isomatte ausgelegt, und dann kuschelt sie sich zum Aufwärmen unter die Decke. Es dauert keine zwei Minuten und sie ist fest eingeschlafen. Der für ihre Ohren viel zu fröhlich wirkende Lärm der aufbrechenden Menschen um sie herum dringt nicht mehr zu ihr durch.
Eine gute Stunde hat sie den tiefen Schlaf der Gerechten und Drangsalierten geschlafen, dann weckt sie die Stille im Raum. Ihre Körperwärme ist wieder auf Betriebstemperatur.
Bis auf eine Handvoll Peregrinos sind die beiden Räume leer — der Schwarm ist ausgeflogen. Der Herbergsvater schaut sie fragend an, als sie verwirrt aus dem Tiefschlaf wieder an die Oberfläche kommt und stammelnd einen Teil ihres nächtlichen Abenteuers erzählt. Immer wieder fragt er sie, warum sie denn nicht geklopft hätte, und ihre wiederholten Beteuerungen, sie habe niemanden wecken wollen, finden bei ihm kein Gehör. Das macht ihre nächtliche Eselei noch deutlicher.
Nach zwei spärlich geschlafenen Nächten verspürt sie überhaupt keine Lust, sich in irgendeiner Weise zu rechtfertigen oder darüber nachzudenken, wie dumm das alles sei. Also packt sie ihren Rucksack. Keine Gymnastik, kein Zähneputzen, keine Dusche — sie muß nicht einmal zur Toilette. Nur noch weg. Brav bedankt sie sich für den geliehenen Schlafsack, schultert ihr Gepäck und stapft davon — einfach so — kein Blick zurück — den Blick nach vorn.
Es ist noch nicht ganz hell, die umliegenden Täler sind nur schemenhaft zu erkennen, und ihr Geist ist noch nicht wach. Ihre Füße laufen wie von allein, langsam zwar, aber dennoch beständig. Irgendwie kommt sie sich innerlich taub vor. Keine Gedanken — keine Gefühle — sie läuft einfach nur den kleinen gelben Pfeilen hinterher.
Das ist das Schöne am Camino — einfach nur laufen können — nicht denken müssen — nur die Natur genießen. So geht das jetzt schon seit Stunden. Entlang an Feldern ohne Bewuchs. Die Ernte ist bereits eingebracht. Es gibt kaum Vegetation. Kaum einen Busch,
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