So nah am Leben
bis alle auf ihren Matratzen liegen. Und dann geht das Licht aus und die Vorstellung beginnt.
Da es außer dem Podest nichts in dem Raum gibt — für Stühle oder Regale ist kein Platz — stehen alle Rucksäcke am unteren Ende der Matratzen. Davor stehen sechsundzwanzig Paar tagesdurchwanderte Schuhe und darauf liegen sechsundzwanzig Paar tagesdurchwanderte Socken. Unter den Decken liegen sechsundzwanzig mehr oder — wie ihre — weniger geduschte Paar Füße... und es gibt keine Fenster!
Der Raum liegt im völligen Dunkel, und sie liegt da und malt sich aus, über wie viele Rucksäcke sie wohl stolpern wird, bis sie die Tür erreicht hat, um auf die Toilette zu gelangen.
Ihr rechter Nachbar, ein deutscher, sehr, sehr netter Pilger, ist bereits eingeschlafen. Er liegt auf der Seite mit dem Gesicht zu ihr und atmet seinen Rotwein direkt in ihr Ohr. Er kann doch nichts dafür, daß die Matratzen so dicht nebeneinander liegen. Sie versucht, ihre Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu richten.
Ah, das Pärchen, das ihr beim Abendessen gegenübersaß, liegt offensichtlich in der rechten Ecke, ähnliche Geräusche kennt sie noch aus der vergangenen Nacht. Sie versucht, Verständnis zu entwickeln, wochenlange Pilgerreisen in Massenunterkünften sind für ein verliebtes Paar nicht so einfach. Sie kann ihr Ohr doch auch in eine andere Richtung drehen. Links von ihr liegt Maria, sie liegt friedlich da und schläft einen ruhigen Schlaf — bewundernswert. Gegenüber veranstalten drei Männer einen Wettkampf im Schnarchen, und sie kann sich nicht entscheiden, wem sie den Sieg zusprechen soll.
Und dann passiert es — ihre Blase meldet sich. Sie liegt doch erst eine halbe Stunde! Das ist nicht organisch, das ist psychisch — da ist sie sich sicher, doch ändern tut das leider nichts. Sie quält sich damit, noch ein bißchen zu warten — so dringend kann es doch gar nicht sein — ist es aber — und sie quält und quält sich weiter.
Ihre Scham wächst — und der Blasendruck gleichermaßen. Länger als fünfzehn weitere Minuten hält sie es nicht aus, dann steht ihre Entscheidung fest. Bevor sie in diesen Räumen auf das Klo gehen und alle mit ihren Geräuschen unterhalten wird, geht sie lieber in die Natur.
Sie rollt die Isomatte zusammen und nimmt den defekten Schlafsack unter den Arm. Dann stolpert sie zur Tür, fällt über einen Rucksack — war ja schon mit einkalkuliert — und dann auch noch über einen Stuhl. Wo kommt der denn plötzlich her? Dann stößt sie mit dem Kopf an die festgeklemmte Tür, die daraufhin aufspringt. Wie viele sie inzwischen wohl schon geweckt hat? Sie vernimmt ein Räuspern und ein paar unwillige Kommentare. Die Außentür läßt sich öffnen.
Wunderbar! Sie hat es in die Freiheit geschafft! Die Tür schließt sich hinter ihr — sie ist gerettet.
Als erstes sucht sie sich ein sicheres Plätzchen, um ihren Druck loszuwerden. Dann geht sie in den Kirchgarten und sucht nach einem Schlafplatz. Sie hat von vielen gehört, daß sie die eine oder andere Nacht bereits draußen verbracht haben — das kann sie auch. Alles ist besser, als wieder dort hinein zu müssen.
Innerhalb der letzten Stunde sind die Temperaturen drastisch gesunken. Sie merkt plötzlich, daß sie immer noch ihre kurze Hose trägt — sehr unpassend für eine Nacht draußen. In einem Mauerversatz des Kirchenbaus rollt sie die Isomatte aus, legt sich unter den Schlafsack und schläft tatsächlich ein.
Ein kräftiger Wind bläst ihr ins Gesicht und weckt sie gnadenlos. Sie schaut auf ihre Uhr. Sie hat noch nicht einmal eine Stunde geschlafen, und die Kirchturmuhr zeigt gerade an, daß es Mitternacht ist. Ein kräftiger Glockenschlag ertönt direkt über ihr.
Sie steht auf und sucht auf der windabgeneigten Seite nach einer annehmbaren Möglichkeit zum Weiterschlafen. Es sieht nicht gut aus. Entweder erreicht sie doch der immer stärker werdende Wind oder der Untergrund eignet sich nicht. So verbringt sie die nächsten Stunden damit, um die Kirche herum zu wandern und ihre Isomatte probeweise auszubreiten, um dann festzustellen, daß es mit jedem Glockenschlag kälter und ungemütlicher wird.
Als die Turmuhr halb drei schlägt, ist sie den Tränen nahe und völlig durchgefroren. Sie entschließt sich trotz der kurzen Hose zu einem Spaziergang, in der Hoffnung, daß sie die Bewegung erwärmen wird. Immer mit dem Blick zum Himmel geht sie ein Stückchen den Berg hinunter. Vor ihr breitet sich ein wunderschöner
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