So nah am Leben
kaum einen Baum. Sie folgt den gelben Pfeilen und Muscheln. Die führen die Pilger direkt in die nächste Herberge. Bei diesem Wort wird ihr Geist schlagartig hellwach — keine Herberge mehr, bitte! Und wie sieht heute ihre Alternative aus? Das möchte sie unbedingt organisieren. Für heute nacht braucht sie ein ruhiges, kleines Hostal ohne die Geräusche anderer Menschen, mit einem warmen, weichen Bett.
Sie hat das Gefühl, an ihrer körperlichen und seelischen Belastungsgrenze angelangt zu sein. Es ist erst die fünfte Etappe von mehr als dreißig. Wird sie die anderen überhaupt schaffen? Im Augenblick ist keine abschließende Beurteilung möglich.
Heute nacht haben ihr die beiden Sternschnuppen zwei Wünsche freigegeben. Ihr erster Wunsch war ganz eindeutig der, diesen Weg zu schaffen, und bei der zweiten Sternschnuppe wünschte sie sich, die Zeichen zu erkennen, die dieser Weg für sie bereithält.
Samantha läuft immer noch langsam die ausgeschilderte Strecke entlang. Es ist nicht mehr weit bis Los Arcos. Dort möchte sie endlich frühstücken und vor allem eine lange, lange Pause einlegen. Den letzten Teil bis Los Arcos quält sie sich geradezu vorwärts. Alle hundert Meter würde sie am liebsten stehenbleiben und sich einfach an den Wegesrand legen und ausruhen. Doch sie treibt sich voran, zwingt sich, die letzten Meter durchzuhalten, obwohl der Rucksack an ihr zerrt. Sie nimmt sich vor, heute abend noch einmal den Inhalt einer genauen Prüfung zu unterziehen. Was braucht sie wirklich und was schleppt sie nur mit sich herum? Sie ist sicher, da läßt sich noch etwas aussortieren.
Dann hat sie es endlich geschafft: Los Arcos liegt vor ihr. Für die Kirche hat sie heute keinen Blick, obwohl diese einen interessanten Eindruck macht. Wahrscheinlich rühmt sich auch diese Kirche einer vor Gold strotzenden Innenausstattung. In den manchmal winzigen Dörfern sieht Samantha viel Armut, da wirken diese protzigen Kirchen für sie irgendwie deplaziert. Sie holt sich ihren Pilgerstempel ab, dann steuert sie auf die nächste Bar zu. Endlich den quälenden Rucksack von den Schultern und ausruhen.
Samantha empfindet den fehlenden Schlaf der letzten beiden Nächte als körperlichen Schmerz. Es kommt ihr vor, als wären alle Knochen und Muskeln in einer Zentrifuge gelandet und müßten sich nun ihren vorgesehenen Platz erst wieder erkämpfen. Ohne das Gewicht des Rucksacks und ausgestreckt im Stuhl haben sie offensichtlich eine größere Chance.
Als erstes bestellt sich Samantha eine große Tasse Kaffee. Dieses Getränk ist in den letzten Tagen zu einer Art Lebenselixier geworden und zählt zu Samanthas Grundnahrungsmitteln. Dazu Toast und Schinken. Danach sieht die Welt schon ganz anders aus.
Wie bei jedem ausgiebigen Frühstück nutzt Samantha auch jetzt wieder die Zeit, um zu schreiben. Erlebt hat sie in der letzten Nacht schließlich genug. Danach studiert sie den Reiseführer und plant den weiteren Tagesablauf. Die heutige Etappe hat wieder fast dreißig Kilometer. Das ist bei ihrem derzeitigen Zustand viel zu viel. Elf Kilometer ist sie bereits gegangen, und sie fühlt sich jetzt schon erschöpft und ausgelaugt. Weitere achtzehn sind da nicht drin.
Sie kann sich nicht entscheiden, was sie tun soll, also bestellt sie sich erst noch einen Kaffee. Das wird ihr einen kleinen Aufschub geben. Während sie genüßlich an ihrem Kaffee nippt, zieht sie das heutige Thema aus ihrem Stoffbeutelchen und freut sich auf diesen nicht zufälligen Hinweis des Universums. Das Thema lautet: MUT! Samantha überlegt, ob dies vielleicht ein Zeichen ist, daß sie eine mutige Entscheidung treffen soll. Aber wie sieht eine mutige Entscheidung konkret aus, und worum geht es dabei? Und — wie lautet ihre derzeit dringendste Frage?
Es geht um die noch ausstehenden achtzehn Kilometer für den heutigen Tag, die ihr in ihrer momentanen Verfassung unbezwingbar erscheinen. Und wenn sie daraus eine Grundsatzentscheidung machen würde, worin läge dann ihr Mut?
Irgendwie drehen sich ihre Gedanken im Kreis, und sie hat nicht gerade das Gefühl, daß sie an einem wesentlichen Punkt angekommen ist. Deshalb packt sie erst einmal ihre Sachen in den Rucksack und verabschiedet sich aus Los Arcos.
Der Weg verläuft auf einer kleinen, staubigen Straße. An einigen Stellen des Pilgerweges, so wie hier, ist in den letzten Jahren eine Art Nebenstrecke errichtet worden. Es sieht aus, als hätte eine große Planierraupe einfach die Linie der normalen
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