So nah am Leben
dem Weg zum angrenzenden Schlafsaal. Wenn sie der Zustand der Duschen und Toiletten schon unruhig werden ließ, so hat sie jetzt wirklich Anlaß zur Unruhe.
Sie betritt einen Raum von ungefähr acht mal acht Metern. Er hat keine Fenster, dafür aber ein riesiges eingebautes Podest, auf dem schmale Matratzen liegen. Dicht an dicht, ohne Sicherheitszone dazwischen, ziehen sie sich in U-Form an den Wänden entlang. In der Schnelle zählt sie ungefähr sechsundzwanzig Schlafplätze, und es gibt noch einen einzigen freien. Mittendrin!
Gedanken des heutigen Tages kommen wieder hoch. Demut, Dankbarkeit, Reduzierung der eigenen Vorstellungen... also gut, dann wird sie also diesen freien Platz belegen und hinnehmen, was da kommen mag. Sie legt den Schlafsack auf die Matratze und platziert ihren Rucksack davor.
Dann wirft sie einen Blick auf die Dusche, oder besser sie möchte gern einen Blick darauf werfen. Keine Chance, die Schlange der duschwilligen, wartenden Pilger reicht inzwischen bis an den wackeligen Küchentisch im Eingangsraum. Da stehen sie, mit ihrem Handtuch über der Schulter, dem Duschgel in der Hand, locker plaudernd über die Ereignisse des Tages.
Und sie, sie merkt, welchen Luxus sie sich gönnt, Tag für Tag mit eigener Dusche und eigenem Klo. Das macht ihr die Entscheidung leicht, heute wird nicht geduscht, Katzenwäsche reicht — irgendwann.
Sie tritt wieder vor die Herbergstür und sieht die Kirche, die den kleinen Ort an erhabener Stelle überragt. Eine hohe Natursteinmauer umgibt den Kirchplatz und einen kleinen Garten. Als sie ihn betritt, sieht sie Maria in einem Gespräch vertieft. Sie freut sich, sie hier zu sehen.
Im Kirchgarten sind Leinen aufgespannt, die andere Pilger eifrig mit gewaschener Wäsche schmücken. Hier wird das Sakrale mit dem Praktischen verbunden. Sie befinden sich auf dem Pilgerweg.
Bodo hat ihr beim Herausgehen noch zugerufen, daß um sieben eine Messe für die Dorfgemeinschaft gehalten und den Pilgern der Segen für den Weg erteilt wird. Der Nonnenchor sei ein Erlebnis, sie solle es nicht versäumen.
Er hat recht. Samantha sitzt in dem winzigen Innenraum der Kirche. Die Gemeinde besteht aus ungefähr sieben sehr, sehr alten Menschen und einer Handvoll Nonnen. Und dann setzen die Nonnen zum Gesang an.
Bereits nach den ersten Tönen haben sie sie völlig in ihren Bann gezogen. Samantha vergißt alles um sich herum und nimmt nur noch ihre Gefühle, ihre Gänsehaut und den Gesang der Nonnen wahr. Kraftvolle Stimmen schwingen ihr entgegen, klar und wunderschön. Die Stimme der Götter ist der Klang, denkt sie, und diese Nonnen vermitteln sie ihr — sie kann die Götter singen hören.
Sie wünscht sich, der Gesang möge nicht aufhören und sie würden immerzu weitersingen. Doch die Nonnen hören auf zu singen, und der Priester bittet alle Pilger, zu sich nach vorn zu kommen, um seinen Segen zu empfangen.
Samantha hatte sich ursprünglich vorgenommen, sich nicht daran zu beteiligen, doch jetzt, noch völlig gefangen vom Gesang der Nonnen, findet sie sich unversehens vor dem Altar wieder und empfängt den Segen für ihren weiteren Weg. Schaden kann es ja nicht, denkt sie und schreitet, immer noch begleitet vom Nachklang des Gesangs, vor die Kirchentür.
Die Sonne war bereits untergegangen, die Luft ist immer noch mild und windstill. Maria hat sich zu ihr gesellt, und sie entschließen sich, aus Ermangelung einer Alternative an der Abfütterung der Pilger teilzunehmen. Das sogenannte Pilgermenü besteht aus einer Bohnensuppe und einem unansehnlichen Fleischragout. Für die Vegetarier gibt es anstelle des Fleischragouts eine zweite Portion Bohnensuppe. So einfach ist das Leben manchmal.
Nach dem Essen spürt Samantha Müdigkeit in sich aufkommen, und der Gedanke, in dem Raum mit so vielen anderen Menschen schlafen zu müssen, bringt sie aus ihrer inneren Mitte. Sie kennt das Drama des Nächtigens — mindestens zweimal treibt es sie für gewöhnlich zur Toilette. Wie wird das wohl werden, ohne Decke im Kloraum und mehr als fünfzig Pilger im unmittelbaren Umfeld? Alle werden mithören und sie verfluchen, weil sie die anderen mit ihren Geräuschen weckt. Ihre Verzweiflung steigt, und eine Lösung ist nicht in Sicht. Vielleicht muß sie ja heute nacht vor lauter Scham gar nicht...
Sie legt sich auf ihre Matratze — ohne Katzenwäsche — und der Saal füllt sich langsam. Es geht auf zehn Uhr zu. Um halb elf wird das Licht ausgemacht. Das ist vielleicht ein Gegruschel,
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