So nah am Leben
gegenüber... ihren eigenen schmerzenden Füßen, dem Baum, der ihr zuwinkt, jedem Tier, dem sie begegnet... jeder Begegnung an sich... allem mit Achtsamkeit begegnen.
Das ist gar nicht so einfach. Was ist mit der Mücke, die sie gestern abend in ihrem Zimmer summend umschwirrte und die sie sicher erschlagen hätte, wenn sie sie hätte fassen können? Was ist mit dem Irrweg von gestern... was hätte Achtsamkeit da bewirken können? Was ist mit alldem, was nicht in ihr Lebensbild paßt und das sie deshalb ablehnt? Das alles soll sie achten? Kein leichtes Thema heute. Ihre erste Übung in Achtsamkeit besteht darin, auf alles zu achten, was ihr begegnet. Jede Kleinigkeit möchte sie wahrnehmen und diese dann ganz bewußt achten und gleichzeitig fühlen, was sie in ihr auslöst. Eine Übung für die nächsten Kilometer, die eine verblüffende Wirkung hat: Sie läßt sie langsamer werden — sowohl im Schrittempo als auch in ihren Gedanken.
Um wirklich wahrzunehmen, braucht sie Zeit. Sie muß sich die Blume genau ansehen, sie kann nicht einfach im Vorbeigehen einen flüchtigen Blick darauf werfen. Achtsamkeit macht langsam und besonnen. Ihre Wanderung wird nun eher zu einem Schlendergang. Und plötzlich schmerzen ihre Füße nicht mehr so stark.
Was hat das zu bedeuten?
Sie kann doch nicht einfach so herumschlendern, sie muß doch ihre Strecke schaffen! Ja, heute sind es weniger Kilometer, da könnte das funktionieren, aber wenn es wieder mehr sind, wie soll das dann gehen?
Was für merkwürdige Gedanken sich da plötzlich in ihrem Kopf ansammeln! Es ist doch völlig egal, wann sie ankommt. Welche innere Stimme will sie da gerade wieder antreiben, den Weg der Achtsamkeit zu verlassen?
Sie schüttelt diese Gedanken ab und beschließt, den bedächtigen Weg der Achtsamkeit einfach weiter auszuprobieren. Ganz bewußt, Schritt für Schritt, Moment für Moment... ganz bewußt und ganz langsam. Ein vollkommen neuartiges Gefühl für Samantha. Für sie, die immer „schnell, schnell“ macht und noch „mal eben“ etwas erledigen möchte.
Sie gibt sich dieser Übung ganz hin und lernt mit jedem Schritt mehr, was es bedeutet, achtsam zu sein, und wie es die Sicht der Dinge verändert. Wieviel größer die Intensität in allem auf diese Weise ist. Wieviel schöner. So geht Samantha mehr als zwei Stunden lang ausgesprochen achtsam mit ihrer Umwelt um und hat danach nicht einmal fünf Kilometer hinter sich gelassen.
Es wird Zeit für eine neue Übung. Die zweite Lektion soll darin bestehen, sich selbst achtsam zu behandeln. Sie will mit ihren Gedanken beginnen. Wenn sie etwas spontan denkt, dann möchte sie es sich in der gleichen Weise anschauen — langsam, bedächtig und bewußt. Sie möchte nicht einfach nur einen Gedanken nach dem anderen vorbeifliegen lassen, sondern sich diese Gedanken anschauen, als wären sie etwas Eigenständiges. Sie möchte die Qualität, die Intensität und die Hintergründe ihrer Gedanken erfahren.
Die Wirkung ist ähnlich wie die bei der Betrachtung der Umwelt. Als erstes wird sie langsamer. Samantha denkt nicht einfach nur einen Gedanken, sie betrachtet ihn und versucht, ihn zu erforschen. Dabei fällt ihr auf, daß sie nicht nur positive Gedanken hat, und sie hinterfragt, woher die anderen kommen. Vor allem fragt sie sich, welchen Sinn die negativen Gedanken ergeben und wodurch sie ausgelöst werden.
Bei einer solchen mühevollen Analyse ihrer spontaner Gedanken bleibt kein Raum, um eine Vielzahl davon zu erforschen, und so entwickelt Samantha eine Technik, um bei einem Gedanken zu bleiben: Sie ignoriert die anderen. Am Anfang klappt das noch nicht so ganz reibungslos, doch mit der Zeit bekommt sie Übung. Auf diese Weise mit ihren Gedanken beschäftigt, beschleunigt sich ihr Tempo fast unmerklich wieder etwas, und gegen Mittag erreicht sie den kleinen Paß Alto de San Antón.
In der Zwischenzeit hat sie durch die Übung herausgefunden, daß viele ihrer negativen Gedanken immer noch ein Überbleibsel ihrer Erziehung sind und Muster widerspiegeln, von denen sie dachte, daß sie sie bereits verändert hätte. Ihre Präsenz ist ein Hinweis dafür, daß dem nicht so ist. Somit erweisen sich ihre negativen Gedanken als wertvolle Spuren ihres noch nicht gelebten Potenzials. Die Positiven auf dieser Wegstrecke haben ihr aufgezeigt, daß diese zum großen Teil ihrer veränderten Lebenseinstellung entspringen und daß solche Gedanken sie darin bestärken, dem weiter nachzugehen. Dieser
Weitere Kostenlose Bücher