So nah am Leben
der Weg nach Burgos drei erhebliche Steigungen und entsprechend starke Abstiege aufzeigt. Samantha ist froh, daß sie ihren Füßen das heute erspart hat!
Die Menschen im Bus hängen ihren Gedanken nach und Samantha fragt sich im stillen , wie diese anderen Pilger wohl zu Hause leben und was sie dazu bewogen hat, diesen Weg zu gehen. Und sie stellt sich ihre Beziehungen vor. Im Augenblick lebt jeder hier für sich allein. Wie das wohl sonst aussehen mag?
Das Thema „Beziehungen“ bringt sie wieder zum Verstand und seiner Handhabung von Beziehungen. Da der Verstand nach Selbsterhaltung und Überleben strebt, betrachtet er auch Beziehungen aus diesem Blickwinkel heraus, und da er aus den Erfahrungen der Vergangenheit Ableitungen macht, kann man sich unschwer vorstellen, wen er als Maßstab für seine Beurteilung heranzieht. Die ersten Versorger und damit Überlebenstrainer waren in den meisten Fällen unsere Eltern. Haben diese ihre Aufgabe gut erledigt, wird der Verstand nach Ähnlichkeiten Ausschau halten. Haben sie ihre Sache aus seiner Sicht nicht gut gemacht, wird er nach Andersartigkeit suchen. In jedem Fall findet jedoch eine Beurteilung aus dem Blickwinkel des Verstandes statt.
Das kann ganz gut funktionieren, hat aber auch einen Nachteil. Meistens sehen wir andere Menschen nicht so, wie sie in ihrer Ganzheit wirklich sind, sondern wir gleichen sie mit unseren Vorstellungen und Erfahrungen, die wir in der Vergangenheit gemacht haben, ab. Dabei kann schon mal die eine oder andere Eigenschaft oder das eine oder andere Bedürfnis eines Partners untergehen oder auch aus praktischen Gründen gar nicht erst wahrgenommen werden.
Auch an dieser Stelle ist es hilfreich, den Verstand unter Beobachtung zu stellen und ihm ab und zu auf die Sprünge zu helfen, indem wir ihm den Bezug zur Gegenwart bewußt machen. Wenn wir unserem Verstand Objektivität zugestehen und ohne nachzudenken handeln, laufen wir Gefahr, die besondere Qualität einer Beziehung einzubüßen.
Der Verstand ist aus seiner Struktur heraus nicht in der Lage, andere Menschen direkt zu erleben, geschweige denn zu lieben. Der Verstand zeichnet Erfahrungen auf und reagiert aus seinem Erfahrungsschatz der Vergangenheit. Er denkt, daß es in der Welt immer darum ginge, einen Mangel auszugleichen, weil nichts in ausreichendem Maße vorhanden ist. Diese Vorstellung läßt ihn gern in Konkurrenz gehen — auch das ist einer guten Beziehung nicht förderlich.
Letztendlich haben wir dem Verstand in unserer Gesellschaft einen Stellenwert eingeräumt, der ihm gar nicht zusteht und den er auch nicht ausfüllen kann. Aus lauter Angst vor unseren — für ihn nicht nachvollziehbaren — Gefühlen und den vielen nicht „Verstandesmäßig“ zu erklärenden Dingen im Leben hat er das Ruder an sich gerissen, und wir geben ihm nur allzu oft nach.
Der Verstand ist, was er ist: ein aus sich selbst heraus wertendes und in der Vergangenheit lebendes Organsystem ohne jegliches Mitgefühl für andere.
Der Busfahrer macht eine Durchsage, für die Samanthas Spanisch leider nicht ausreicht. So viel versteht sie aber doch, sie sind in Burgos angekommen — und die Sonne scheint.
Danke, liebes Universum!
Vom Busbahnhof aus sind es nur wenige Schritte bis zur Kathedrale. Samantha befindet sich direkt in der Altstadt. Wäre sie zu Fuß gegangen, hätte sie die nicht besonders attraktiven Industrie- und Gewerbezonen als erstes zu Gesicht bekommen; so blieben sie ihr erspart, und sie geht direkt am Río Arlanzón entlang auf das Stadttor Arco de Santa María zu. Hier wird tüchtig restauriert, und durch das Chaos hindurch kann sie die bauliche Pracht bereits erahnen. ‘Sie freut sich immens auf die zwei Tage in Burgos. Das Wetter scheint mitzuspielen, und es gibt hier so unglaublich viel zu sehen!
Sie schlendert durch die kleinen Gassen der Altstadt und stößt auf einen kleinen Laden mit Informationen über Burgos. Es wäre gut, sich ein bißchen ausführlicher auf ihre Zeit hier vorzubereiten, denkt sie und kauft einen detaillierten Stadtplan; dazu legt sie noch eine andere Broschüre hinzu. Dann entdeckt sie in dem Laden eine T-Shirt-Sammlung. Auf einem dieser T-Shirts sind alle Stationen des „Camino de Santiago“ aufgelistet. Sie kauft zwei davon. Eines für sich und das andere für Maria. Maria hat am Ende der Tour Geburtstag. Vielleicht treffen sie sich ja noch einmal.
Die Kathedrale ist ein monströses Bauwerk, aber nicht ohne einen gewissen Reiz, denkt
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