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So nah am Leben

So nah am Leben

Titel: So nah am Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inaqiawa
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sie sie gebührend pflegen.

    In dem kleinen Restaurant ihres Hostals läuft wie immer in voller Lautstärke der Fernseher. Die Wettervorhersage kündigt für morgen heftigen Regen in dieser Region an. Das kommt ihr sehr entgegen. Sie hat sich vorgenommen, in Burgos zwei Tage Station zu machen und sich die Zeit für ausgiebige kulturelle Besichtigungen zu nehmen. Um ihren Zeitplan dennoch einhalten zu können, wird sie den Weg nach Burgos mit dem Bus fahren. Ihre Füße haben sich diese Erleichterung gewünscht und die Entscheidung begrüßt. Um ‘ einundzwanzig Uhr beginnt es zu regnen und hört die ganze Nacht nicht mehr auf.

Verstand

    Der Verstand ist ein Überlebensorgan.
    Er lebt in der Vergangenheit und unterscheidet nicht
    zwischen Realität und Möglichkeit.
    Der Verstand kann nicht lieben!

    Sechs Uhr früh. Es ist noch dunkel und regnet wie aus Eimern. Über Samanthas Fenster ist die Dachrinne defekt, und ein Schwall Wasser platscht in Abständen an die Scheiben. Sie findet Gefallen an dem Gedanken, heute nicht durch den Regen laufen zu müssen, und dreht sich noch einmal genüßlich um. Der Bus geht erst um halb zehn — sie hat noch viel Zeit.

    Dann steht sie an der Bushaltestelle nach Burgos. Die Wettergöttin hat ein Einsehen mit den Wartenden. Sie hat den Hahn für einen kurzen Moment abgestellt, und so können ungefähr zwanzig Fahrgäste ohne Schirm und Wartehäuschen den Bus trocken besteigen. Sie stellt mit Erstaunen fest, daß die meisten von ihnen Pilger sind.

    Das beruhigt sie irgendwie, wenngleich ihr nicht ganz klar ist, warum ihre inneren Stimmen nach dem Aufstehen ein solches Konzert aufgeführt haben. Am schlimmsten war der VERSTAND. Du liebe Güte, hat der argumentiert. Und immer vorneweg, und immer die größten Sprüche, und immer recht behalten wollen. Der Verstand kann einem ganz schön auf die Nerven gehen und dabei die anderen inneren Stimmen ziemlich verunsichern.

    Seitdem Samantha um die grundlegende Struktur und die Aufgaben des Verstandes weiß, kann sie besser mit ihm umgehen und ihn auch das eine oder andere Mal zur Ruhe mahnen. Sie sieht den Verstand als ein Organsystem, das den Menschen gegeben wurde, weil ihnen der Überlebensinstinkt größtenteils abhanden gekommen ist. Also sorgt der Verstand für unser Überleben und tut alles, um dieser Aufgabe gerecht zu werden.
    Er speichert Erinnerungen von Erlebnissen, noch während diese sich ereignen, und leitet sie ans Gedächtnis weiter, damit sie erhalten bleiben und bei Bedarf abrufbereit sind, um im Notfall das Überleben zu sichern.
    Allerdings hat unser Verstand ein Problem, von dem er gar nichts weiß. Er speichert nicht nur tatsächliche Ereignisse, sondern auch eine Art Kombination von dem, was geschehen ist und was potenziell hätte geschehen können. Er verfügt über die Kapazität, sich ein genaues Bild von dem zu machen, was möglich wäre, und speichert dieses Bild dann jedoch als Erinnerung ab, so als handele es sich um eine authentische Erfahrung. Und bei allen Vorteilen, die sich aus diesem wichtigen Organsystem für uns Menschen ergeben, hat der Verstand auch einen entscheidenden Nachteil: Er lebt ständig in der Vergangenheit.
    Das ist der Grund dafür, warum Samantha ihren Verstand gut beobachtet, auf ihn achtgibt und ihm von Zeit zu Zeit begreiflich macht, daß sich die Zeiten ändern und daß die Lösungsmöglichkeit von gestern nicht immer auch die richtige für heute ist.

    Der Bus hält an einer Straßenecke. Eine Frau mit vielen Taschen und Beuteln zwängt sich neben sie auf die Bank und schiebt ihr eine ihrer Taschen in die Rippengegend. Das unterbricht ihre Gedanken, und sofort meldet sich eine Stimme in ihr zu Wort: „Kann die nicht aufpassen? Wie rücksichtslos! ...“ — „Ist ja gut“, besänftigt sie diese Stimme, „es besteht keinerlei Gefahr, das kann doch schließlich jedem mal passieren. Die Frau will mir doch bestimmt nichts anhaben.“

    Sie blickt aus dem Fenster und beobachtet die dunklen Wolken am Himmel, die in einer unglaublichen Geschwindigkeit vorbeiziehen. Das deutet auf Wind — jedenfalls dort oben. Sie ist so froh, daß sie bei diesem Wetter ihren Rucksack nicht durch die Gegend tragen muß! Ihr fällt ein alter, ziemlich dummer Spruch ein, der jetzt so schön paßt: „Man muß auch mal auf ein Opfer verzichten können.“

    Wie gemütlich es hier im Bus ist! Die Frau neben ihr hat inzwischen auch gemerkt, daß sie ein bißchen viel Raum eingenommen hat und hat ihre

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