So nah am Leben
zu diesem Zeitpunkt diese Gedanken hat, und wozu dienen sie?
Kann es sein, daß die Menschen hier auf der Erde einem höheren Plan folgen? Daß sie nicht zufällig hier sind, sondern eine Aufgabe zu erfüllen haben?
Schon seit vielen Jahren glaubt Samantha nicht mehr an zufällige Ereignisse, zu oft hat sich der dahinterstehende Sinn im Zeitverlauf gezeigt. Wie häufig in ihrem Leben sind schon Dinge geschehen, die sie sich ganz anders vorgestellt hatte und derentwegen sie sehr traurig oder enttäuscht war. Und dann, mit ein bißchen Abstand, stellte sich heraus, daß gerade das, was sie eigentlich nicht wollte, genau das Richtige für sie war und Sinn ergab.
Samantha taucht gerade rechtzeitig aus ihren Gedanken auf, um die Grenze zwischen den beiden historischen Regionen Rioja und León-Kastilien wahrzunehmen. Überall an den Wegen finden sich Plakate und Hinweise, die darauf hindeuten, daß León die Eigenständigkeit anstrebt. Da scheint eine aktive Bürgerbewegung am Wirken zu sein.
Der Weg führt sie durch weite Flächen von abgeernteten Weizenfeldern. So weit ihr Auge reicht, bleibt es immer wieder an den gelblichen Farbtönen hängen. Im reflektierenden Sonnenlicht bekommt die Region etwas Weiches.
Heute geht Samantha wieder allein. Auf der weit überschaubaren Strecke ist kein Mensch zu sehen. Kein Arbeiter auf den Feldern, keine Pilger. Kein Motorengeräusch stört dieses Idyll. Nur das Summen der Insekten begleitet sie. Eine schmale Straße führt in ein Tal, und an dessen Ende geht es wieder sanft bergan.
Es ist ein Moment absoluter Ruhe. Das Knirschen und Schaben ihrer Schuhe auf den Steinen unterbricht monoton die Stille und wird nach einer Weile zu einem Teil des Szenarios. Auch das kaum hörbare „Klick, klick“ ihres Wanderstabs, den sie sich inzwischen gekauft hat, reiht sich ein, und so ergibt sich eine harmonische Geräuschkulisse inmitten der Stille, und wie von selbst setzt eine Meditation ein. Samantha kneift die Augen etwas zusammen, wodurch sich das Flirren der Luft verstärkt.
Ihr Tagtraum beginnt. Eine weitläufige Veranda umsäumt das kleine Holzgebäude. Die Fußbodendielen des Vorbaus sind, genau wie das Haus, milchig-weiß gestrichen und geben dem Holz eine einladend freundliche Note. Rote Bougainvilleen ranken sich an den schmalen Eckpfosten empor und spenden den notwendigen Schatten.
Im Eingangsbereich stehen ein paar einfache Holztische, die von schlichten Stühlen eingerahmt werden. Eine junge Frau reicht den Pilgern mit einem freundlichen Lächeln das Mittagessen. Die Stimmung ist fröhlich und ein bißchen andächtig. Die Seitenteile der Veranda sind mit komfortablen Holzliegen ausgestattet. Dort können sich die Pilger eine Weile ausruhen und meditieren, bevor sie weiterziehen.
Das kleine Häuschen besteht aus nur einem Raum. Hier wohnt und arbeitet die alte Schamanin Saskayaya. Ihr Haar ist grau und umrahmt das strahlende Gesicht. Sie trägt farbenfrohe Gewänder und scheint die Zeit angehalten zu haben, denn ihr wahres Alter ist nicht zu bestimmen. Man munkelt, daß sie zwischen achtzig und neunzig Jahre alt sein könnte, weil sie bereits seit vielen Jahren an diesem Ort lebt.
Sie hilft den Pilgern dabei, den Sinn ihrer Pilgerfahrt zu erkennen, und spricht mit ihnen über deren innere Sehnsüchte. Sie verliert nicht viele Worte, doch was sie sagt, das trifft. Manchmal holt sie verlorengegangene Seelenanteile zurück, um die Heilung einer Seele einzuleiten. Das sind wunderbare Zeremonien und Rituale, an denen viele Menschen aus der Umgebung teilnehmen.
Hier wird getrommelt und getanzt, und die ganze Umgebung ist von einer kraftvollen Energie getragen. In diesem Holzhaus ist jeder willkommen, und selten ist die Schamanin allein.
„Buen camino!“, klingt eine Stimme an Samanthas Ohr und reißt sie aus ihrem Tagtraum und den ihn begleitenden angenehmen Gefühlen. Sie erwidert den Gruß und ist wieder zurück in der Realität.
So ein Häuschen könnte ihr auch gefallen, denkt sie. Es würde ihr Freude bereiten, andere Menschen zu bewirten. Im Augenblick kann sie sich das zwar gar nicht konkret vorstellen, aber vielleicht weist dieser Tagtraum ja in eine ferne Zukunft.
Der Stand der Nachmittagssonne zeigt ihr an, daß sie ihre heutige Etappe bald geschafft haben müßte. Ihre Füße haben sie heute mehr als fünfundzwanzig Kilometer getragen, und sie ist ihnen sehr dankbar dafür, denn die Schmerzen hielten sich in Grenzen. Wenn sie in Belorado ankommt, wird
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