So nah am Leben
Taschen vor ihren Füßen deponiert. Alles ist in Ordnung.
Wo war sie noch mit ihren Gedanken, bevor sie ungewollt unterbrochen wurde? Ach ja, daß der arme Verstand stets aus dem Fundus der Vergangenheit schöpft. Und was heißt eigentlich: das Überleben sichern?
Zum Überleben braucht der Mensch als erstes Atemluft, um dem Erstickungstod zu entgehen. Da dies im Körper in der Regel automatisch vor sich geht, kommt der Verstand nur dann zum Einsatz, wenn die Luft knapp wird. Das gleiche gilt für die Nahrung, um dem Hungertod zu entgehen. Wird die Nahrung knapp, ist der Verstand ebenfalls wieder gefragt. Seine Funktion wird also immer dann gebraucht, wenn ein Mangel entsteht, woraus dieser wiederum schließt, daß die Welt in einem permanenten Mangelzustand lebt! Es gibt noch eine dritte Voraussetzung zum Überleben, die nicht so vordergründig erscheint. Der Verstand muß dafür sorgen, daß genügend Liebe da ist. Allein mit Nahrung und Luft scheint das Überleben nicht gesichert zu sein, wie man in Säuglingsheimen festgestellt hat. Dort hat man beobachtet, wie vorenthaltene Liebe zum Tod führen kann.
Um seinen Aufgaben gerecht zu werden, erzeugt der Verstand eines jeden Menschen eine Art Überlebensstrategie, die diese Person dann wie selbstverständlich lebt, meist ohne zu wissen, warum er oder sie dies eigentlich tut. Es ist wie ein Spiel, in dem jeder Spieler seine eigenen Regeln hat, sogenannte Verhaltensmuster, von denen er aber meistens gar nicht weiß, warum und wie sie entstanden sind und daß er sie überhaupt hat. Diese Verhaltensmuster zielen darauf ab, genügend Luft, Nahrung und Liebe zu erhalten und ergeben sich aus den Erfahrungen, die der Verstand im Laufe der Zeit gesammelt hat, sowie aus den Vorstellungen, die er sich macht. Leider, ohne dabei zwischen beiden zu differenzieren.
Für Samantha ist es leicht nachvollziehbar, daß der Verstand die Verknüpfungen und Unterscheidungen nicht immer so korrekt hinbekommt, weil er besessen davon ist, daß die Welt aus Mängeln besteht, und seine Angst zu versagen, ist so groß, daß er mit Scheuklappen durchs Leben geht. Und so kann es schon mal passieren, daß wir unserem Verstand folgend etwas tun, das sich später als nicht besonders erfolgreich für unser Überleben entpuppt.
Diese Frage stellt sich Samantha auch gerade bei dem Mann, der hinter ihr im Bus sitzt. Sein „Überlebens-Atem“ riecht intensiv nach Alkohol — um elf Uhr vormittags. Als würde er merken, daß sie über ihn nachdenkt, rückt er in seinem Sitz etwas nach hinten. Ihr soll’s recht sein.
Bei dem Stichwort „ihr soll’s recht sein“ fällt ihr direkt noch ein weiteres Bedürfnis des Verstandes ein: recht behalten wollen. Recht behalten zu wollen, hat etwas mit Selbsterhaltung zu tun und ist ein Überlebenstrick, der nur sehr selten aufgegeben wird. Das kann dann in den Augen anderer schon grotesk aussehen, wenn jemand merkt, daß etwas nicht funktioniert, und dennoch darauf beharrt, weil er oder sie diesen Überlebenstrick um keinen Preis aufgeben will.
Leider können wir in diesem Fall keine Hilfe von unserem Verstand erwarten, weil er „mit allen Mitteln“ an diesem Trick festhält. Und als „recht“ erachtet er das, was er diesbezüglich als „recht“ beurteilt. Er ist sich selbst Maßstab. Da haben andere keine Chance. Wenn dem Verstand die Argumente ausgehen, scheut er sich auch nicht davor, andere Menschen und Meinungen abzuwerten. Er wird alle Register ziehen, um recht zu behalten. Sein allerletzter Versuch besteht darin, sich zu rechtfertigen, wenngleich davon auszugehen ist, daß Rechtfertigungen das momentane Überleben nicht wirklich fördern. Dennoch hält er an der Rechtfertigung fest, koste es, was es wolle, und sei es eine totale Veränderung der eigenen Wahrnehmung. Hauptsache, am Ende heißt es: Ich habe recht!
Der Weg nach Burgos über die dazwischen liegenden Dörfer braucht — seine Zeit. Der Regen taucht alles in ein trostloses Grau. Samantha blickt aus dem Fenster und überlegt, wie das Wetter wohl in Burgos sein wird. Für die Besichtigungstouren wäre etwas Sonne durchaus praktisch. Die Frau neben ihr ist bereits ausgestiegen. Am Ende war sie für Samantha gar nicht mehr zu spüren, und sie hat noch nicht einmal gemerkt, daß der Platz neben ihr frei geworden ist.
Die Landschaft zieht an ihr vorüber. Verpaßt sie etwas dadurch, daß sie sich den Weg nicht „erläuft“? Sie blättert in ihrem Reiseführer und erblickt, daß
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