So nah am Leben
deutlich gemacht, daß alles Leben reine Energie ist. Wenn sich also alles um Energie dreht, dann entspringen auch Macht und Gewalt einem Energiespiel.
Und wenn es stimmt, daß alles aus Energie besteht, so gilt das auch für uns Menschen. Woher nehmen wir die Energie zur Erneuerung unseres Energiehaushaltes? Die Medizin spricht vom „Energie-Stoffwechsel“ und vom „Ernährungs-Stoffwechsel“.
Aber woher nehmen wir unsere mentale, unsere psychische Energie?
Samantha muß an die Sequenzen ihrer Seminare denken, die sich mit dem Thema Macht auseinandersetzten. Da ging es auch um ein „Unten“ und um ein „Oben“. Wer sich oben wähnt, fühlt sich gut, und wer sich unten wähnt, fühlt sich schlecht. Damit wäre auch der psychische Energiehaushalt zu beschreiben.
Das hieße in der Konsequenz, daß Menschen, die andere unterdrücken, sich ihrer bemächtigen oder ihnen Gewalt antun, sich deren Energie einverleiben. Das Ganze ist also eine Art „Energieklau“. Ein Hin und Her von Energie als Überlebenstechnik. Was für ein erbärmliches Spiel. Und was hat das alles mit ihr zu tun? Warum hatte sie gestern dieses Erlebnis in Burgos?
Ein Blick auf die Uhr zeigt ihr, daß es klug wäre, sich wieder auf den Weg zu machen. Auch wenn sie noch nicht genau weiß, bis wohin sie heute gehen will, ist es besser weiterzugehen, um der Mittagshitze auszuweichen. Also nimmt sie sich vor, bis Hornillos del Camino zu laufen. Das sind noch ungefähr sieben Kilometer und die richtige Distanz, um danach eine Pause zu machen.
Als sie den Ort erreicht, findet sie einen kleinen Laden. Über der Tür hängt ein lustiges Schild: ein Pilgerstempel mit der Zahl 469. Von hier aus sind es noch 469 Kilometer bis nach Santiago de Compostela. Dieser Stempel ist ein Muß für jeden Pilgerausweis.
In der kleinen Bar, die ein paar hundert Meter weiter entfernt an der Straße liegt, trifft sie Martin und Kurt wieder. Sie nehmen gerade ein Pilgerfrühstück ein: ein Glas Rotwein und ein Brot. Vielleicht sollte sie das auch einmal versuchen, um die Schmerzen in ihren Füßen erträglicher zu machen. Der Versuch scheitert, von einem Glas Rotwein lassen sich ihre Füße nicht bestechen. Aber der Stimmung hat es nicht geschadet. Sie gehen zu dritt ein Stückchen weiter, dann verfällt Martin in einen schnelleren Schritt und Kurt bleibt zurück. Er ist noch langsamer als sie, seine Füße sind noch schlimmer dran als ihre.
Sie ist wieder allein auf dem Weg. Die Gegend ist zu dieser Jahreszeit menschenleer. Nur die Pilger durchqueren diese Landschaft im Hochsommer freiwillig. Rund um die Tafelberge ist es jetzt kahl. Auch hier sind die großflächigen Weizenfelder bereits abgeerntet. Nur gelbe Stoppeln, so weit das Auge reicht. Kein Schatten — den ganzen Weg bergauf — kein Schatten auf dem Plateau. Die Wege sind staubig und erscheinen endlos.
Gegen Mittag zeigt ihr ein Schild an, daß es noch ungefähr tausendfünfhundert Meter bis zur nächsten Ortschaft sind. Sie fühlt sich schmutzig und erschöpft. Sie errechnet, daß sie heute bereits die mit ihren Füßen vereinbarten zwanzig Kilometer gelaufen ist. Deshalb wünscht sie sich entgegen der Aussage ihres Reiseführers ein Hotel in dem kleinen Ort mit Namen Hontanas.
Sie zählt die Schritte. Bei ihrem Tempo müßten es ungefähr viertausend sein, bis sie das Dorf erreicht. Sie ist jetzt schon bei 1.797, und nichts ist zu sehen. Die Meseta erstreckt sich unbeeindruckt bis zum Horizont. Häuser sind nicht auszumachen. Sie zählt weiter. Als sie bei 3.277 immer noch keine Häuser sieht, wird ihre Stimmung zusehends schlechter.
Das ist so ein Moment, in dem ihre innere Hoffnung ganz plötzlich gen null geht. Eigentlich ist doch gar nichts passiert — und gerade das ist es, was sie herunterzieht. Sie will jetzt endlich in ein Dorf kommen, ein Zimmer mit einer Dusche und einem Bett bekommen, und dann möchte sie sich fallen lassen können, sowohl physisch als auch psychisch. Sie möchte einfach nicht mehr laufen und diesen Rucksack schleppen müssen.
3.534 Schritte, und die Landschaft ist immer noch dieselbe. Auf dem Plateau der Meseta sticht die Mittagssonne. Die verdorrte Landschaft fleht um Wasser, und weit und breit kein Dorf zu sehen. Samantha geht tapfer weiter — was soll sie auch anderes tun?
Ihr Mut verläßt sie bei 4.112, und plötzlich steht sie an einem Abgrund. Die Meseta bricht einfach ab. Unter ihr liegt das kleine Dörfchen Hontanas in das Tal geschmiegt. Mit
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