So nah am Leben
mir das Leben noch einmal dieselbe Situation an. Innerlich wehrte ich mich oft gegen diese Wiederholung und wußte nicht, wie ich mich verhalten sollte. Kann ich eine Chance, die mir das Leben anbietet, einfach so ablehnen und verstreichen lassen? Das hat mir mehrere Male Kopfzerbrechen bereitet.
Dann, eines Tages, traf ich eine weise Frau, die mir erklärte, daß das Leben nicht nur Chancen anbietet, sondern auch Versuchungen schickt. Die Chancen, die uns angeboten werden, dienen unserem nächsten Wachstumsschritt. Die Versuchungen, die uns geschickt werden, stellen eher eine Überprüfung dar: Habe ich den letzten Entwicklungsschritt bereits vollzogen oder kann ich noch in Versuchung geführt werden?
Diese Erklärung finde ich so genial, weil sie mir die Möglichkeit läßt, frei zu entscheiden. Wenn ich den Eindruck habe: „Nein danke, nicht schon wieder... diese Lektion kenne ich bereits...“, dann kann ich mich guten Herzens gegen sie entscheiden, ohne daß dies bei mir das Gefühl hinterläßt, ich hätte eine angebotene Chance vertan. Vor diesem Hintergrund prüfe ich die Herausforderungen des Lebens nun also sehr gründlich. Das hat den zusätzlichen Vorteil, daß ich meine eigene Entwicklung sehr bewußt verfolge und mich mit meinen persönlichen Erfahrungen und Erkenntnissen sehr intensiv auseinandersetze.“
Marlen sieht Samantha an und nickt. „Dann muß ich jetzt wohl herausfinden, ob diese Partnerschaft eine Chance oder eine Versuchung ist. Aber wie stelle ich das an? Wie machst du das?“
„Das war die Botschaft. Vielleicht magst du sie erst einmal sacken lassen und abwarten, was sich für dich daraus ergibt“, antwortete Samantha ganz vorsichtig. Sie spürt, daß Marlen auf der Suche nach einer schnellen Lösung ist. Doch die kann sie ihr nicht geben. Marlen muß sie aus sich selbst herausfinden.
„Wo ist heute deine Endstation?“, fragt Marlen Samantha genauso vorsichtig. „In Rabanal del Camino“, antwortet Samantha und ahnt, was jetzt als nächstes kommt. „Ich werde auch dort übernachten. Können wir uns für den Abend verabreden? Ich würde gern weiter mit dir über dieses Thema sprechen und dir dann berichten, was sich unterwegs für mich ergeben hat.“
Samantha willigt ein und freut sich für Marlen, daß sie sich darauf eingelassen hat, zu schauen und wirken zu lassen.
Die Verabredung steht, aber sie vereinbaren keinen genauen Zeitpunkt und keine genaue Stelle. Sie haben keine Ahnung, wie groß der Ort ist und welche Möglichkeiten sich dort bieten. Wenn es sein soll, werden sie sich wieder treffen.
Samantha packt ihre Sachen zusammen und verabschiedet sich. Die Strecke bis nach Rabanal zieht sich ohne Unterbrechung und immer geradeaus. Es ist ein Weg, um in die Natur einzutauchen und sich von nichts ablenken zu lassen. Und so läuft Samantha weitere drei Stunden, bis sie in Rabanal ankommt.
Es ist einer dieser langgestreckten Orte links und rechts der Hauptstraße. Alles ist auf die Versorgung der Pilger ausgerichtet. Ein kleiner Lebensmittelladen, eine Herberge und ein neuerhautes Hostal mit einem Restaurant.
Auf den Stühlen vor der Eingangspforte hat sich eine Traube jüngerer Pilger versammelt, die aber offensichtlich nur einen Zwischenstopp einlegen und dann weitergehen möchten. Sie sprechen vom nächsten Ort mit dem Namen Foncebadón, der vor tausend Jahren eine große Bedeutung hatte und dessen nahezu verfallene Gebäude nun wieder aufgebaut werden sollen.
Samantha entschließt sich für das Hostal am Ortseingang und bleibt für heute hier.
Es ist nach sechs, als Samantha sich vor der Tür des Restaurants in die Sonne setzt. Die jungen Pilger sind schon weitergezogen.
Eine etwas ältere Frau sitzt an einem der Nachbartische. Sie ist klein, untersetzt und braungebrannt. Sie sieht nicht wie eine Pilgerin aus. Da sie aber Ansichtskarten schreibt, geht Samantha davon aus, daß sie sich wohl irren muß.
Beide Frauen haben das gleiche bestellt und bekommen es zur gleichen Zeit. Das veranlaßt sie, sich einen guten Appetit zu wünschen, und darüber kommen sie ins Gespräch. Die Dame hat vor vier Monaten vor ihrer Haustür den Pilgerweg gestartet. Sie kommt aus Paris. Wenn sie Compostela erreicht, wird sie mehr als tausendneunhundert Kilometer zu Fuß zurückgelegt haben. Sie war ein paar Monate zuvor in Rente geschickt worden und wollte mit ihrer neugewonnenen Freizeit auch neue Erfahrungen sammeln. So kam sie auf den Camino.
Noch während sie zusammensitzen,
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