So nah am Leben
unser Leben selbst gestalten und daß diese Gestaltung ganz eindeutig von unseren inneren Absichten abhängig ist. Ob dies bewußt oder unbewußt geschieht, spielt dabei keine Rolle. Ihre — wenn auch zum Teil unbewußte — innere Absicht ist entscheidend, wie sie sich verhält, wie sie Situationen bewertet und was sie daraus macht.
Erstes Fazit: Niemand kann ihr ihre feierliche Stimmung zerstören. Und so hat Samantha wie geplant ihre kleine Zeremonie am Cruz de Ferro abgehalten, und dabei ist es ihr egal, ob noch jemand anderes anwesend ist oder nicht.
Diese Erkenntnis hat noch weitere Konsequenzen. Sie rüttelt sie wieder wach für andere Eindrücke. In den letzten Stunden war sie so auf die Menschen aus dem Bus fixiert gewesen, daß sie die Natur um sich herum gar nicht mehr wahrgenommen hat. Sie war so damit beschäftigt, andere abzuwerten, daß sie die Schönheit der Landschaft gar nicht bemerkt hat.
Samantha schämt sich, doch das ändert nun auch nichts mehr. Sie atmet tief durch und läßt ihren Blick über die weiten Ebenen dieser Region schweifen. Dann geht sie weiter, immer noch beschämt, aber in der Lage, die Blockaden aufzulösen, um sich weiter mit dem Thema INNERE ABSICHT zu beschäftigen, das sich ihr heute auf so massive Art und Weise gezeigt hat.
Ihr nächstes Ziel ist El Acebo. Ein kleines Dorf mit einem Hostal. Dort gedenkt sie ihre Tagesetappe mit Rücksicht auf ihre Füße zu beenden.
Der Weg dorthin bietet eine atemberaubende Aussicht über alle Täler und Bergkuppen hinweg. Samantha fühlt sich für das schlechte Wetter und die schlechte Sicht in den Pyrenäen entschädigt und freut sich deshalb doppelt.
‘ Diese Freude begleitet Samantha den ganzen Weg. Dadurch wird ihr ein weiteres Mal in aller Deutlichkeit bewußt, daß es ausschließlich unsere innere Bewertung ist, gleichzusetzen mit unserer inneren Absicht, die darüber bestimmen, wie wir unser Leben erleben. Niemand hat ihr heute morgen die Bewertung der Menschen aufgedrängt. Niemand hat ihr heute mittag ihre Stimmung aufgedrängt. Sie allein ist dafür zuständig, wie sie die Dinge erlebt, und damit trägt sie auch die Verantwortung dafür. So verhält es sich nun einmal, ob ihr das gefällt oder nicht.
El Acebo ist ein Dorf im typischen Stil dieser Region, mit Gebäuden, die sich entlang der Hauptstraße aufreihen. Die Besonderheit liegt hier in den holzgeschnitzten Baikonen an den Häusern, die zur Straße hin ausladend hervorragen. Das sieht hübsch aus und verengt die Straße zur Mitte hin.
Alles ist auf Tourismus und die Pilger ausgelegt. Ein nettes, sauberes Dorf. Eigentlich genau so, wie Samantha es auf diesem Weg gar nicht mag. Es wirkt denaturiert — Samantha mag das Originäre, das Ursprüngliche.
Nach ein paar Schritten steht sie vor dem Hostal, das sie sich für diese Nacht ausgesucht hat, und als sie die Schwingtür aufstößt, kommt ihr herzhaftes Lachen entgegen. Sie steht in der Tür und blickt auf fünfzig Pilgertouristen, die beim gemeinsamen Mittagessen lauthals grölen.
Sie weicht einen Schritt zurück und läßt die Tür schnell wieder zuschwingen. Welchen Hinweis will ihr das Leben nun damit geben? Sie hat sich ja damit abgefunden, daß es alles liebe, nette Menschen sind, die es nicht verdienen, daß sie sie abwertet... aber sie möchte den Tag trotzdem nicht mit ihnen verbringen.
Also, was nun?
Es ist erst Mittag, und sie könnte sich etwas zu essen kaufen und dann vielleicht doch noch ein kleines Stückchen weitergehen. Nur drei Kilometer weiter befindet sich der nächste Ort. Vielleicht gibt es dort ein Hostal ohne eine Busladung voll Touristen. Sie erinnert sich, daß gleich am Ortseingang ein Schild mit dem Hinweis auf ein „Grocery Store“ zu sehen war, und so macht sie sich auf die Suche nach diesem Laden. Irgendwann erblickt sie zwei Sonnenschirme und ein paar Plastikstühle und vermutet eine kleine Bar. Als sie davor steht, sieht sie einen winzigen Lebensmittelladen. Vor der Tür sitzt ein altes Ehepaar.
Sie geht hinein, und die alte Dame folgt ihr. Drinnen ist sie ein bißchen verwirrt, weil sie erwartet hat, daß es hier etwas Warmes zu essen gäbe, wegen der Tische und Stühle draußen vor der Tür. Der Laden ist vielleicht zehn Quadratmeter groß — wenn es hochkommt.
Sie fragt die Frau, ob es etwas zu essen gäbe, und die zeigt ausladend mit beiden Händen in die Runde. Ja, daß es hier Lebensmittel zu kaufen gibt, das sieht Samantha... sie meinte eben etwas Warmes. Die
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