So nah am Leben
tritt, durchfährt sie der Gedanke an Maria. Wie weit sie wohl inzwischen schon gelaufen sein mag? Sie haben seit einigen Tagen nichts mehr voneinander gehört. Samantha geht dieser Eingebung nach und wählt Marias Handynummer. Als Maria sich meldet, ist die Freude auf beiden Seiten groß. Maria ist wie ein kleiner Fixstern auf Samanthas Wanderung.
Während des Gespräches stellt sich heraus, daß Maria ebenfalls in Astorga ist. Sie badet ihre Füße gerade in Salzwasser, in der Herberge ein paar Straßen weiter. Das zeigt Samantha, daß selbst die „Tänzerin des Caminos“ nicht immer problemlos über den Camino „stratzt“.
Sie treffen sich in einem kleinen Restaurant zum Essen. Ach, es ist so schön, Maria wiederzusehen und sich mit ihr zu unterhalten. Sie haben sich so viel zu erzählen, daß die Zeit nur so dahinfliegt. Mit vollem Bauch und gut gelaunt trennen sie sich für einen ausgiebigen Mittagsschlaf und verabreden sich für den frühen Abend wieder.
In Astorga ist Fiesta angesagt. Eine ganze Woche lang feiern die Einwohner in ausgelassener Stimmung und mit viel Spektakel wieder irgendeinen Heiligen. Stelzenläufer, Jongleure und Musiker an allen Ecken. Die Frauen sind glücklich darüber, denn das bunte Treiben erfüllt die Straßen und Plätze mit Freude und Leben. Die hochsommerlichen Temperaturen tun ein übriges und lassen die Feststimmung bis tief in die Nacht andauern. Was für eine willkommene Abwechslung nach den Tagen solch tiefgehender Gedanken und Gefühle!
Maria und Samantha feiern freudig mit — und damit gleichermaßen ihr Wiedersehen. Tapas-Teller und Wein zieren ihren kleinen, runden Tisch, ganz nach typischer spanischer Manier. Zwischen ihnen hat sich ein zartes Band entsponnen, das nach Verständnis und Freundschaft schmeckt. Vergessen ist das Drama der Nacht, vergessen ist auch der Schmerz in den Füßen.
Chance und Versuchung
Das Leben bietet uns Chancen und Versuchungen an.
Die Chance
beinhaltet unseren nächsten Entwicklungsschritt.
Die Versuchung dient der Überprüfung,
ob der letzte Entwicklungsschritt
vollzogen und integriert wurde.
Samantha nimmt sich vor, daß dies heute der letzte Tag mit Schmerzen in den Füßen sein soll. Bewaffnet mit Schmerztabletten und unter der Androhung, sie auch zu nehmen, wenn die Füße sich nicht entsprechend verhalten, hat sie die ersten Kilometer erstaunlich leichtfüßig hinter sich gebracht. Das macht Hoffnung.
Bei ihrer ersten Pause trifft sie Maria. Sie hat den gestrigen Abend offensichtlich genauso genossen wie sie und sich heute morgen nicht mit frühem Aufstehen gequält.
Sie gehen ein Stückchen gemeinsam, bis Samantha merkt, daß sie Marias Tempo nicht durchhalten kann. Maria geht vor, und Samantha kann sie auf der geraden Strecke noch kilometerweit sehen. Es kommt ihr so vor, als würde sich ein langer Faden hinter ihr abspulen, der sie energetisch miteinander verbindet. Selbst als sie Marias Silhouette in der Ferne nicht mehr zu erkennen vermag, bleibt der schimmernde Faden bestehen.
Nach den endlosen Wegen über die Mesetas und ihre abgeernteten Weizenfelder belebt die heutige Strecke ihre entwöhnten Augen durch grüne Eichenwälder. Offensichtlich macht erst der Verzicht den Genuß perfekt. Samantha kann sich an den frischen Farben gar nicht sattsehen. Es gibt Gebiete, da fühlt sie sich wie in der Lüneburger Heide — wären da nicht die Berge im Hintergrund zu sehen. Das herrliche Panorama beschwingt sie.
Ihre Stimmung paßt sich der Landschaft an. Sie wird fröhlicher und fängt an zu summen. Nach ein paar Kilometern melden sich die Schmerzen in ihren Füßen wieder, und auch die erneute Androhung von Tablettengewalt ändert bis zum Mittag nichts daran, und so beschließt sie, eine lange Mittagspause einzulegen, bevor sie weitergeht.
Sie sitzt entspannt unter einem Baum am Ufer eines kleinen Bächleins und will gerade ihr Tagesthema ziehen, als Marlen vorbeikommt und sich in ihre Nähe setzt. Sie sind sich in den letzten Tagen ein paarmal über den Weg gelaufen. Mal hat die eine die andere überholt, oder sie haben sich bei einer Rast gesehen. Gesprochen haben sie noch nicht miteinander. Jetzt scheint der richtige Zeitpunkt dafür gekommen zu sein.
Langsam rollt Marlen ihre Matte im Gras aus und zieht ihre Schuhe und Strümpfe aus. Dann legt sie alles sorgfältig zum Trocknen in die Sonne.
Samantha lehnt sich innerlich zurück und beobachtet aufmerksam das fast meditative Verhalten.
Es vergehen
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