So nah am Leben
noch einige Minuten, bis Marlen mit ihr Augenkontakt aufnimmt und sie anlächelt. Samantha sitzt da, entspannt und abwartend. Sie ist offen für ein Gespräch, aber es muß nicht zwingend stattfinden. Sie könnte auch ein Miteinander-Schweigen sehr gut aushalten.
Etwas, das Samantha auf diesem Weg gelernt hat, ist, nicht mehr um jeden Preis ein Gespräch führen zu müssen. Schweigen in der Natur ist etwas sehr Erholsames. Manchmal treffen wir Menschen, um eine Botschaft aus ihren Worten zu hören, und manchmal treffen wir Menschen, um mit ihnen zu schweigen. Es ist spürbar, daß Marlen ähnlich denkt und noch darüber nachsinnt.
„Wir sind uns nun schon so oft begegnet und haben noch nie miteinander gesprochen“, sagt Marlen leise. „Ich habe trotzdem das Gefühl, daß du eine Botschaft für mich hast. Ich weiß nicht richtig, wie ich es ausdrücken soll...“
„Kennst du die Prophezeiungen von Celestine?“ Marlen nickt. „Dann verstehen wir einander, und du mußt mir dein Gefühl nicht erklären.“ .Vielleicht hängt es mit meinem Tagesthema zusammen, das ich gerade wählen wollte, als du kamst. Vielleicht ist es ein Thema, das auch für dich in dieser Zeit wichtig ist. Möchtest du erst von dir erzählen oder soll ich zuerst das Thema ziehen?“ Marlen denkt einen Moment nach und antwortet dann: „Ich würde gern von meiner Situation erzählen und danach sehen, was die Botschaft für mich ist.“
Dann erzählt ihr Marlen von ihrer Partnerschaft, von den Bemühungen und Auseinandersetzungen, die beide Partner miteinander erleben. Und daß sie das Gefühl hat, diese neue Beziehung sei letztendlich auch nicht besser und anders als die letzte. Dabei war sie am Anfang felsenfest davon überzeugt, daß er diesmal ein ganz anderer Typ Mann sei und auch die grundsätzlichen Bedingungen anders gestaltet seien. Und nun, nach fast zwei Jahren, zeigt sich, daß so viele Ähnlichkeiten auftreten, daß sie jetzt gar nicht mehr sehen kann, was sie am Anfang sah: eine neue Chance.
Es ist eine ausführliche und sehr gefühlvolle Schilderung, und Samantha hat den Eindruck, daß Marlen sich ziemlich gut kennt. Als sie den letzten Satz ihrer Beschreibung ausspricht, fließen die Tränen, und Samantha kann Marlens Verzweiflung spüren. Sie war während ihrer Erzählung mit ihrer Matte immer dichter an Samanthas Tuch herangerückt, und jetzt am Ende sitzen sie so eng beieinander, daß der Abstand zwischen ihnen kaum mehr spürbar ist. Sie sind gemeinsam in einen energetischen Raum eingetaucht. Die Umwelt scheint für sie nicht mehr zu existieren, und die Zeit auch nicht.
Irgendwann schaut Marlen auf, schnieft noch einmal kräftig in ihr Taschentuch und sagt dann: „Puh, das hat mal richtig gutgetan. Und jetzt bist du mit deinem Thema dran, ich bin schon sehr gespannt!“
Samantha nestelt an ihrem Stoffsäckchen herum und wünscht sich insgeheim, daß sie das Thema „Chance oder Versuchung“ ziehen möge. In den letzten Tagen hat sie bereits darauf gewartet, dieses Thema zu ziehen — heute würde es wirklich passen. Und dann kommt ihr die Idee, Marlen selbst ziehen zu lassen. Das scheint Marlen zu gefallen, und sie versucht sofort, ein kleines Zettelchen herauszufingern. Dann liest sie laut vor: „CHANCE oder VERSUCHUNG.“
Das Strahlen in Samanthas Augen ist für Marlen nicht zu deuten — ist ja für den Moment auch nicht so wichtig. Samantha schaut erwartungsvoll in Marlens Richtung, dann wiederholt sie die Worte: „Chance oder Versuchung.“
„Ich muß gestehen, daß ich im Moment nicht so viel damit anfangen kann, aber deinem Gesicht nach zu urteilen, paßt dieses Thema ja wohl wie gerufen.“ Samantha fragt Marlen, ob sie ihre Gedanken dazu hören möchte, und Marlen willigt ein.
„Ich bin mir im klaren darüber, daß das Leben an sich keine Bewertung kennt. Die Bewertung von „positiv“ oder „negativ“ entsteht lediglich in den menschlichen Köpfen. Dem Leben selbst ist alles „gleichgültig“. Davon ausgehend habe ich die Situationen, die ich erlebte, immer auch als Chance zum Wachstum gesehen und als eine Art Herausforderung, die es anzunehmen gilt. So wie du in deiner Schilderung davon sprachst, daß diese Beziehung für dich nach einer neuen Chance aussah.
Und doch gab es da für mich mehrfach einen gedanklichen Haken. Wenn sich mein Verhalten oder auch meine Lebenssituation aufgrund einer Erkenntnis veränderte, dann gab es immer mal wieder Momente, in denen es so schien, als biete
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