So nah am Leben
dicht an der Haltestelle. Samantha spricht die Frau in ihrem freundlichsten Ton an, den sie sich abringen kann, und tatsächlich, sie weiß, daß er gegen Mittag fährt, was immer das auch heißen mag.
So lange mag sie nicht warten und beschließt weiterzugehen. Bevor sie ihren Rucksack wieder aufschultert, werden ihre Arme, Beine und Gesicht mit Sonnencreme versorgt, und als sie sich mit ihrer Hand über den Hals fährt, bekommt sie einen Schrecken: Sie fühlt eine dicke Schwellung. Ihr kleiner Taschenspiegel zeigt ihr, was sie kaum glauben möchte: einen granatengroßen Flohbiß! Zu allem Überfluß hat sie sich heute nacht auch noch einen Floh eingefangen! Ihre Stimmung verbessert sich dadurch nicht wirklich.
Ohne weiter darüber nachzudenken, macht sich Samantha auf den Weg nach Astorga und läuft, so lange es geht. Sie kneift ihre Augenbrauen zusammen, verknotet ihren Magen und ist so trotzig, wie es die Kleine in ihr nur sein kann. Als sie einen Kanal überquert, stolpert sie über einen winzigen Stein und liegt der Länge nach auf dem Weg, der Rucksack auf ihr.
Sie ist so unendlich erschöpft!
Sie rappelt sich wieder auf, geht noch ein paar Meter, dann wirft sie sich einfach links ins Gebüsch und heult los.
Nach ein paar Minuten kommt nur noch ein abgrundtiefes Schluchzen aus ihrer Kehle.
Sie ist so erschöpft.
Sie ist so genervt.
Sie ist so traurig.
Sie ist so...
An dieser Stelle durchzuckt es sie: Sie ist so... — oder sind das lediglich ihre Gefühle, die sie da spürt, also ein Teil ihrer Identifikation? Sie ist doch diejenige, die das gerade alles beobachtet. Und als ob sie sich selbst ad absurdum führen will, ist sie durch die Erinnerung an die gestrigen Gedanken plötzlich wieder hellwach. Sie ist doch dieses „etwaslose Etwas“, welches außerhalb ihrer Identifikation steht. Dieses Etwas ist nicht erschöpft, genervt oder traurig. Diese Dinge liegen doch alle im großen, weißen Laken.
Es existieren also zwei Positionen. Die eine ist, daß sie sich mit all dem identifiziert, was sie erlebt und fühlt und was sie irgendwie zu einem Opfer der Umstände und des gesamten Lebens macht und sie heulend ins Gebüsch treibt. Das ist der Inhalt des Lakens.
Die andere Position ist die der Beobachterin, die das alles beobachtet, aber nicht bewertet, sondern nur wahrnimmt und sagt: „Es ist, wie es ist“ — ohne Emotionen. Das ist das Laken selbst.
Dieses „etwaslose Etwas“ ist also der Kontext für ihre Identifikation. Und selbst wenn sie nicht bestreiten kann, daß sie eine Identifikation hat, so ist sie diese jedoch nicht. Sie ist ihr eigener Kontext, der die Identifikation beinhaltet.
Das leuchtet ihr jetzt ein, und es beweist, daß sie viel mehr ist als ihr Körper, ihre Vorstellungen, ihr Glaube und alle diese Dinge. Und daß sie viel mehr ist als die Verzweiflung und die Erschöpfung, die sich in ihr breitgemacht haben.
Das ist ein wunderbarer Gedanke, der Samantha sehr berührt und der sie hoffnungsvoll macht. Sie kann die Erschöpfung spüren, die gemilderte Verzweiflung, und sie spürt daneben noch etwas anderes. Für einen kurzen Moment weiß sie um ihr „Höheres Selbst“, das Göttliche in ihr, und für einen kurzen Moment sieht sie die Zusammenhänge des Universums. Dann übernimmt wieder die Erschöpfung die Regie, und sie schläft zusammengekauert unter dem knorrigen Busch ein.
Eine Hand berührt sie an der Schulter. Samantha zuckt zusammen, fährt hoch und sieht einem fremden Mann in die Augen. Neben ihm steht ein Auto mit offener Tür. „Qué pasa?“, fragt er sie.
So zusammengekauert, wie sie unter dem Busch eingeschlafen ist, muß es für ihn so ausgesehen haben, als wäre ihr etwas zugestoßen. Sie erklärt ihm halb in spanisch , halb in deutsch, daß sie wohl vor Erschöpfung eingeschlafen sein muß, und er bietet ihr an, sie nach Astorga mitzunehmen. Danke, liebes Universum, das paßt genau!
Astorga ist eine wirklich nette Stadt. Eine Altstadt zum Wohlfühlen, in der die römischen Wurzeln immer mal wieder durchscheinen. Besonders sehenswert ist der Bischofspalast, der von dem katalanischen Baumeister Antoni Gaudi errichtet wurde.
Als Samantha die Kathedrale erreicht, wird eine Messe gehalten. Hunderte von Menschen singen gerade den letzten Psalm, als sie eintritt. Die Atmosphäre löst bei Samantha nachhaltig eine Gänsehaut aus; allerdings bleibt ihr wenig Zeit, sie zu genießen, weil nun alle zum Ausgang strömen.
Als sie wieder aus der Kirche
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