So nah am Leben
light? Sie erwischt sich bei dem Gedanken, das unmöglich zu finden. So eine Reise als Vergnügungstour zu gestalten, und dann auch noch zum „Cruz de Ferro“, einem dermaßen symbolträchtigen Ort auf dem Pilgerweg! Ihre Empörung nimmt zu. Sie beschließt zu schlendern, damit der Menschenpulk an ihr vorheiziehen kann. Ohne Rucksack und mit leichten Füßen passieren die Touristen sie, während Samanthas Empörung immer größer wird, bis sie in schlechte Laune umschlägt. So hatte sie sich den Tag nicht vorgestellt, umgeben von Pilgertouristen, igittigitt!
Dann wird sie auch noch von einer Frau in deren derbem Dialekt angesprochen: „Geht es Ihnen nicht gut? Brauchen Sie ein Pflaster?“ — „Wie bitte? Wie kommen Sie denn darauf?“ — „Weil Sie so langsam gehen, dachte ich, Sie hätten Blasen an den Füßen.“ Samantha fühlt sich belästigt: „Nein danke, gehen Sie nur rasch weiter, damit Sie Ihre Gruppe nicht verlieren!“
Du meine Güte, sie ist aber wirklich schlecht drauf! Warum ist sie nur so unfreundlich? Eigentlich war das doch nett gemeint, oder? Ihre Interpretation ist da ganz anders. Was erlaubt sich diese Frau eigentlich? Kommt daher, ohne Gepäck und mit dem Bus, und maßt sich an, an ihrem Gang und an ihren Füßen herumzumäkeln. Ausgerechnet ihr, die bis heute mehr als fünfhundertfünfzig Kilometer geschafft hat, will sie das sagen! Samantha wendet sich zur Seite, um zu signalisieren, daß sie nicht an einem weiteren Gespräch interessiert ist, und die Frau zieht weiter.
Samantha denkt nur noch: Also so was! Dann macht sie sich auf zum Cruz de Ferro. Hier pflegen Pilger einen mitgebrachten Stein als symbolisches Zeichen für die Lasten, die sie tragen und abwerfen wollen, zurückzulassen. Samantha hat sich dafür eine kleine Zeremonie ausgedacht und hofft damit allein zu sein. Das ist etwas naiv in Anbetracht des Pilgerstroms.
Kurz bevor sie das Kreuz erreicht, vernimmt sie eine Gitarre und Gesang. Als die Landschaft den Blick auf das Kreuz freigibt, sieht sie, wie die Busgesellschaft das Kreuz und das gesamte Umfeld in Beschlag genommen hat. Es sieht aus wie ein Gottesdienst, und Samantha stellt sich vor, daß dies wahrscheinlich auch ein Gottesdienst ,light’ sein wird. Sie findet es schon ziemlich unverschämt, daß die es wagen, diesen Ort einfach so zu okkupieren. Sie nimmt ihren Rucksack von den Schultern und setzt sich an den Wegrand, um zu warten, bis die Gruppe endlich verschwunden ist.
Samantha hat gar nicht so unrecht, die kleine Messe ist eine Miniausgabe; ihre Hoffnung aber, sie würden nun auch wieder schleunigst verschwinden, wird enttäuscht. Nun müssen ja noch Fotos her. Fünfzig Leute einzeln vor dem Kreuz, dann als Gruppe und dann noch in kleinen Grüppchen — das braucht seine Zeit. Samantha ist inzwischen jedoch nicht mehr gewillt, noch länger zu warten. Also nimmt sie ihr Bündel und geht die letzten paar hundert Meter. Sie kommt gerade rechtzeitig, um mitzubekommen, wie zwei Männer mit vereinten Kräften einen riesigen Felsbrocken zu den Steinen werfen und lauthals schreien: „Da, nimm hin unsere Last.“ Sie lachen sich halb tot, und einer der beiden schlägt sich vor lauter Jux auf die Schenkel.
Samantha ist innerlich kurz vor dem Explodieren. Die machen mir die ganze Feierlichkeit kaputt, denkt sie und schmollt wie ein kleines Kind. Sie ist drauf und dran, die Leute zu beschimpfen, als ein anderer Pilger an ihr vorbeikommt und sagt: „So unterschiedlich kann das Leben sein, nicht wahr?“ Ihr erster Gedanke ist: Na, wie ist der denn drauf? Der kann das doch nicht wirklich so gelassen hinnehmen! Aber offensichtlich kann er.
Samantha steht an der kleinen Kapelle am Kreuz und sieht zu, wie der Bus die ganze Bagage wieder einlädt und davonfährt. Der Pilger, der sie eben im Vorbeigehen angesprochen hat, steht neben ihr und grinst amüsiert. „So eine lustige Bande, die haben ihre Freude, nicht wahr?“
An seinem Verhalten wird Samantha schlagartig klar, was sie da in sich aufgebaut hat. Der Snobismus, die Arroganz und das moralische Überlegenheitsgetue dienten zu nichts anderem, als die Gedankengänge ihres Verstandes und somit ihre Qualen zu rechtfertigen. Sie quält sich den Weg entlang, während die sich das Leben so einfach machen. Ja, stimmt! Mehr ist dazu nicht zu sagen.
Eine sehr beeindruckende Lektion, findet sie, wie unterschiedlich ein und dieselbe Situation erlebt und gelebt werden kann. Und es zeigt ihr erneut ganz klar, daß wir
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