So nah am Leben
sieht Samantha Marlen auf sich zukommen. Ihr Gesichtsausdruck ist entspannter als am Mittag. Die Traurigkeit ist aus ihren Augen verschwunden und ihr Gang ist leichter geworden.
„Ich muß dir erzählen, was heute noch alles in mir vorgegangen ist“, platzt es aus ihr heraus. „Das mit der Unterscheidung zwischen Chance und Versuchung ist ein ganz neuer Gedanke für mich. Und ich habe mir mal meine letzten Beziehungen angesehen und mich dabei gefragt, was ich aus ihnen zu lernen hatte. Weißt du, was mir dabei aufgefallen ist? Ich hatte zwar immer denselben Typ Mann, aber bei jedem habe ich etwas anderes gelernt. Das hat mich total verblüfft.“
Die Pariserin schaut verständnislos, aber fasziniert von ihrem Essen auf. Zum einen, weil sie kein Deutsch spricht, und zum anderen, weil sie bemerkt, daß es aus Marlen nur so herausbricht. Marlen erzählt immer noch im Stehen vor unseren Tischen. Dann plötzlich merkt auch Marlen, wie euphorisch sie wirken muß.
„Kann ich mich zu dir setzen?“, fragt sie entschuldigend.
„Na klar, erzähl ruhig weiter.“
„Also, es sind drei Dinge, die mir klargeworden sind. Erstens räumt diese Unterscheidung richtig auf und hinterläßt ein gutes Gefühl. Zweitens ist keine Beziehung wie die andere, und aus jeder habe ich etwas anderes gelernt. Bis heute mittag hatte ich das Gefühl, ich treffe immer wieder auf denselben Typ Mann und könnte mir eigentlich die ganze Beziehungskiste sparen, weil am Ende immer dasselbe steht: Trennung. Aber dann habe ich genauer hingesehen und festgestellt, daß ich in jeder Beziehung einen anderen Aspekt von mir kennengelernt habe. Und in jeder der vorhergegangenen Beziehungen war gleichermaßen eine Versuchung enthalten. Und ich habe so mancher widerstanden. Das konnte ich daran merken, daß ich bei ähnlichen Situationen in der nächsten Beziehung anders reagiert habe und meine vorherigen Erkenntnisse umsetzen konnte. Und so war jede Beziehung eine neue Chance und im nachhinein ein großer Gewinn für mich. Verstehst du, was ich meine?“
„Ja, das habe ich verstanden. Und was ist die dritte Erkenntnis?“ „Daß es bei den Beziehungen nicht darauf ankommt, ob es dieser oder jener Typ Mann ist, sondern wie ich damit umgehe. Das mag jetzt egoistisch klingen, aber es geht immer nur um meine Lernschritte. Der andere hat ja ebenfalls seine eigenen. Mir ist klargeworden, daß jede Begegnung einen Lernschritt beinhaltet — jede — nicht nur in Partnerschaften. Und wenn ich diesen Schritt nicht gehe, dann bekomme ich eben immer dieselben Schritte präsentiert, bis ich sie gelernt habe, basta!“
„Basta! Da hast du vollkommen recht! Dem bleibt nichts mehr hinzuzufügen. Und was machen wir jetzt mit dem Rest des Abends?“
„Wir gönnen uns jetzt einen Rotwein. Ich jedenfalls habe ihn mir heute redlich verdient“, beschließt Marlen, und Samantha stimmt ihr fröhlich zu.
Innere Absicht
Unsere innere Absicht,
bewußt oder unbewußt,
entscheidet darüber, wie wir unser Leben erleben.
So gesehen, bekommt jeder Mensch das,
was er beabsichtigt!
Heute morgen hat Samantha die Wahl, früh zu starten und damit der Mittagshitze zu entgehen oder erst bei Anbruch der morgendlichen Dämmerung, um den Weg sehen und genießen zu können. Zwischen Rabanal und dem nächsten Ort Foncebadón liegt eine Paßsteigung, und so entscheidet sie sich für den späteren Start.
Foncebadón ist ein fast gänzlich zerfallener Ort. Nur die Überlandleitung weist darauf hin, daß hier auch Menschen wohnen. Ein Mönchsorden ist damit beschäftigt, Teile einer alten Kirche wieder aufzubauen. Hier bekommt Samantha auch den Etappenstempel für ihren Pilgerausweis.
Die Ruinen des Dörfchens strahlen teils etwas Morbides, teils aber auch etwas Kraftspendendes aus. Es ist ein kultischer Ort. Ein kleiner Laden verkauft biologisch kontrollierte Waren an die Pilger, und es sieht so aus, als ob sich in diesem Ort die sogenannten Aussteiger treffen.
Kaum kommt Samantha aus der kleinen Kirche, hört sie hinter sich ein Geräusch, das sie im ersten Moment nicht zuordnen kann, weil sie es hier nicht vermutet hätte: Es ist der Motor eines Busses! Die Türen öffnen sich und ungefähr fünfzig Touristen steigen aus. Fröhlich schnatternd machen sie sich auf den drei Kilometer langen Weg zum Cruz de Ferro.
Samantha steht da und beobachtet argwöhnisch das Treiben. Snobismus und Arroganz melden sich in ihr in gleicher Stärke. Was machen die hier? Ist das etwa pilgern
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