So nah am Leben
den Moment nicht zu stören. Und so sitzt sie da, schließt ihre Augen und fühlt in sich hinein.
Was sie spürt, ist etwas Allumfassendes — etwas Großes und Ganzes — sie fühlt Liebe. Nicht so eine Liebe wie zu einem Partner. Nicht so eine Liebe wie zu einem Kind. Auch nicht so eine Liebe wie zu irgend etwas . Es ist ganz anders, viel umfassender. Es ist eine Liebe, N die alles mit einbezieht. Ihr fällt keine andere Bezeichnung dafür ein als: kosmische Liebe. Diese Liebe ist an gar nichts geknüpft, sie hat keine festen Vorstellungen und keine bestimmten Erwartungen. Sie ist einfach nur da.
Samantha hat auch keine Ahnung, wodurch diese Liebe entstanden ist. Es erscheint ihr so, als wäre sie schon immer dagewesen und sie hätte gerade ein Fenster oder eine Tür geöffnet und kann sie auf einmal sehen und spüren. Vielleicht liegt es auch an diesem Ort oder an diesem Moment oder an ihrer Offenheit für beides oder vielleicht auch an allem zusammen.
Es fühlt sich so unbeschreiblich gut an. Jetzt würde sie gern die Zeit anhalten können. Sie möchte am liebsten unendlich eintauchen in dieses Wohlbehagen, sich darin verlieren und nie wieder auftauchen.
„So, bitte schön, Ihr Kaffee“, sagt die freundliche Bedienung schaut sie an und stutzt. „Sie müssen aber eben an etwas sehr Schönes gedacht haben, Sie strahlen ja über das ganze Gesicht!“ — „Ja, es war etwas ganz Schönes. Aber es war kein Gedanke, sondern ein Gefühl, das vielleicht auch von diesem Ort ausgeht. Können Sie es auch spüren?“ Samantha blickt sich um und sieht, daß sie beide allein auf der Terrasse sind. Es ist noch früh, und offensichtlich ist noch nicht viel los im Hotel. „Kommen Sie, setzen Sie sich einen kurzen Moment zu mir und spüren Sie“, lädt Samantha die junge Frau ein, die ihre Einladung erstaunlicherweise annimmt.
Als sie es sich im Stuhl bequem gemacht hat, fragt Samantha: „Können Sie es spüren?“ — „Hmm, die Sonne ist so schön warm... keine Geräusche... aber sonst, hmm... also jetzt entspanne ich mich... und es geht mir gut. Hmm, aber sonst? Sonst kann ich nichts spüren. Strahle ich jetzt auch?“ Samantha schaut die junge Frau an. „Ihr Gesicht sieht sehr schön aus. Die Entspannung ist zu sehen. Und ich finde, ja... Sie strahlen auch!“
Die junge Bedienung sieht sie an, ohne etwas zu sagen. In ihr geht etwas vor, das kann Samantha deutlich spüren. Jetzt geht ihr Blick durch sie hindurch, und sie scheint an etwas zu denken, das einige Zeit zurückliegt. Sie erhebt sich vom Stuhl und sagt noch im Aufstehen: „Ich glaube, Sie haben recht, dieser Moment erinnert mich sehr an eine Zeit, in der ich sehr glücklich und voller Liebe war.“ Dann geht sie mit schnellen Schritten ins Gebäude. Sie dreht sich noch einmal um und schaut auf den Stuhl, als wolle sie sich noch einmal an das Gefühl erinnern.
Für Samantha wird es Zeit weiterzugehen.
Ihr nächstes Ziel ist Ponferada. Hier möchte sie frisches Bargeld tanken, und sie sucht seit vier Tagen eine Apotheke, weil ihr die Zutaten für ihren Powerdrink ausgegangen sind. In Ponferada wird sie sicher fündig werden.
Ponferada ist eine Bergwerksstadt. Die Minen der Umgebung sind seit der Römerzeit bekannt. Das prägt das Stadtbild wesentlich. Lediglich die Altstadt hat ihren alten Charakter erhalten können.
Samantha kann dieser Stadt nicht viel Schönes abgewinnen und erledigt ihre Angelegenheiten so rasch wie möglich, um bald wieder ins Umland aufzubrechen. Die vielen Autos, die vielen Menschen und der ständige Lärm sind für ihre entwöhnten Sinne kaum auszuhalten. Außerdem hat sich ihr heute ein so wundervolles Thema gezeigt, dem sie sich gern in der Ruhe des Ländlichen widmen möchte.
Am Rande der Stadt sucht sie sich eine kleine Bar in einer Seitenstraße. Sie möchte die Planung für den restlichen Tag noch einmal durchgehen. Heute abend will sie in Villafranca del Bierzo übernachten. Bis dahin sind es insgesamt siebenunddreißig Kilometer — unvorstellbar für sie zu Fuß. Sie hadert mit sich, weil sie heute erst dreizehn gelaufene Kilometer hinter sich hat. Aber wenn sie sich entschließen will, einen Bus zu nehmen, dann besteht hier in Ponferada die größte Chance dafür.
Was sagen denn ihre Füße zu dieser Idee? Oh, die sagen: „Wenn du uns fragst, dann lieber ein paar Kilometer weniger als mehr. Gestern waren es mehr als die ausgemachten zwanzig — also ist es nicht tragisch, wenn es heute mal ein paar weniger
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