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So nah am Leben

So nah am Leben

Titel: So nah am Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inaqiawa
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Geschenk.

Gefühle

    Unsere nicht gelebten Gefühle der Vergangenheit
    warten, mehr noch, sie drängen
    in der Gegenwart darauf,
    wahrgenommen und ausgedrückt zu werden.

    Der Tag gestern mit Maria war sehr gefühlsintensiv. Der Inhalt ihres Traumes hat sie aufgewühlt und viele Fragen in ihr aufgeworfen. Die Gefühle während des Traumes und auch während der Gedanken danach sind immer noch nicht vollständig sortiert, und so nimmt sich Samantha vor, heute einen Tag Pause einzulegen. Diesen Tag möchte sie ganz unter dem Eindruck des Themas GEFÜHLE verbringen. Der wunderschöne Ort O Cebreiro liegt nur ein paar Kilometer entfernt. Dort will sie bleiben.

    Als sie aufbrechen, ist klar, daß jede von ihnen wieder ihr eigenes Tempo gehen wird, und sie verabschieden sich herzlich voneinander, in der Hoffnung, daß sich ihr Weg bis nach Compostela noch einmal kreuzen wird.

    Es ist noch früh, aber es ist bereits jetzt deutlich spürbar, daß wieder einmal einer dieser heißen Tage angebrochen ist. Die Sonne entfaltet ihre ganze Kraft. Nachmittags sind es dann nahe an die vierzig Grad im Schatten — sofern sich welcher finden läßt.
    Auf der heutigen Etappe wird sie die Grenze zu Galicien überschreiten. Von da an ist die Natur wieder grüner und saftiger, das wird ihre Augen und ihre Seele versöhnen und verwöhnen. Also schultert Samantha ihren Rucksack und macht sich frohen Mutes auf den Weg nach O Cebreiro.

    Die Landschaft ist überwältigend. Sie kann hundert Kilometer weit sehen. Die Berge geben zwischendrin immer wieder die Sicht auf die Täler frei, und wenn sie zurückschaut, wundert sie sich, daß sie dieses ganze Gebiet bereits zu Fuß durchwandert hat.

    Stolz kommt in ihr auf, und sie erinnert sich daran, daß sie sich heute intensiver mit ihren Gefühlen beschäftigen möchte. Vielleicht ist es hilfreich, zunächst einmal die Gefühle von den Gedanken zu trennen. Denn Gefühle kann sie nur fühlen. Sobald sie dabei beginnt zu denken, denkt sie nur, daß sie fühlt.
    Anschließend möchte sie gern unterscheiden, ob das Gefühl, das sie gerade im Augenblick erlebt, ein Gefühl ist, das durch die gegenwärtige Situation hervorgerufen wird, oder ob es sich um eines aus der Vergangenheit handelt, das durch die gegenwärtige Situation erneut ausgelöst wurde, nicht aber ursprünglich mit dieser zu tun hat.

    Sie blickt sich um und genießt die saftig grüne Landschaft und den weiten Blick in die umliegenden Täler. Samantha schließt die Augen und versucht, das dazugehörige Gefühl zu erspüren. „Ich bin zufrieden“, denkt sie. „Wieso?“, denkt sie weiter, „Ich will doch spüren, und außerdem ist ,Ich bin zufrieden’ doch kein Gefühl, sondern eine Bezeichnung für etwas, das ich glaube zu sein. Also eine Identifikation..." Also noch mal von vorn: „Was spüre ich?“
    Hm, das ist nicht so ganz klar. Ihr momentanes Gefühl scheint sich aus vielen einzelnen Gefühlen zusammenzusetzen. Samantha spürt etwas Wohlbehagen, sie spürt etwas Vertrauen, sie spürt auch Zufriedenheit, und mit dem Gedanken an die Natur auch einen Hauch von Demut. Aber da ist noch mehr. Sie spürt auch Enttäuschung und Traurigkeit, und sie spürt Einsamkeit und Schmerz.

    Samantha ist überrascht über die Vielfalt ihres gegenwärtigen Gefühlslebens, und sie ist auch etwas ratlos, weil sie die Mischung so skurril findet. Das paßt irgendwie nicht zusammen. Wie kann sie denn im selben Augenblick Zufriedenheit und Traurigkeit spüren? Und was hat die Enttäuschung hier zu suchen?
    Samantha beschließt, in Gedanken eine Konferenz mit den acht Anteilen ihres Gefühls einzuberufen. Imaginär sitzen alle in einer Runde, und sie (wer ist das?) sitzt dazwischen und übernimmt die Moderatorenrolle. Schweigend sitzen die neun nun da und warten ab, was nun wohl passieren wird.

    Als erstes meldet sich das Wohlbehagen und flötet mit ganz zarter und warmer Stimme: „Haben wir es nicht alle unsagbar gut? Die Sonne scheint so schön, und die Landschaft ist derart hinreißend, findet ihr etwa nicht?“ — „So ist es, und wir müssen nichts dafür tun, daß wir es so gut haben!“, stimmt die Demut mit ein. In ihrer Stimme klingt etwas Heiliges und etwas sehr Weises. Dann entsteht eine Pause.
    Ganz vorsichtig beugt sich die Traurigkeit nach vorn. Ihre Stimme ist sehr spröde und zurückhaltend. Sie sagt: „Mag ja sein, aber ich kann das alles gar nicht richtig wahrnehmen. Ich sehe auf dem Weg so viele traurige Dinge. Die vielen

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