So nah am Leben
als auch aus der Gegenwart. Mir geht’s gut!“
„Ja, so ist es immer, jetzt werden wir auch noch als Miesmacher dargestellt. Wir haben auch ein Recht, hier zu sein“, stöhnt die Traurigkeit auf. „Wer verarbeitet denn immer all den ganzen Mist, der da an Verletzungen auf den Menschen einstürmt? Aber haben will uns keiner. Schon in Kindertagen wurden wir einfach weggetröstet: ,Ist ja nicht so schlimm, wird schon wieder werden.’ Uns hat doch keiner richtig ernst genommen, und kaum bin ich aufgetaucht, wurde ich auch schon wieder verleugnet. Ich möchte ein einziges Mal sein dürfen, ich möchte anerkannt werden.“ In der Stimme der Traurigkeit liegt eine Spur von Resignation.
Die Moderatorin fragt: „Und wie ist das heute? Hast du heute schon einen Grund gehabt, hier zu sein?“ — „Nein, nicht wirklich, aber ich bin allgegenwärtig, um bloß keine Chance zu verpassen, auch mal gesehen und anerkannt zu werden. Das ist ein ziemlich mühsamer Job, das könnt ihr mir glauben.“
„Ja, versteht ihr denn nicht?“, fügt jetzt die Enttäuschung hinzu, „es geht doch gar nicht darum, ob ich hier und heute einen Grund habe dabeizusein. Ich hatte so häufig einen Grund dazusein, und wurde nicht wahrgenommen oder wieder weggeschickt. Irgendwann will ich eben auch mal geliebt werden, und ich warte voller Sehnsucht darauf, daß sich irgendwann einmal jemand meiner erbarmt. Und so lange werde ich präsent sein, ob euch das nun paßt oder nicht.“ — „Also hast auch du heute eigentlich keinen Grund, dazusein?“ — „Doch, für mich ist es Grund genug, jeden Tag präsent zu sein, damit ich endlich zu meinem Recht komme! Ob aktuell oder nicht, ist mir egal!“
„Wenn sich hier alle so deutlich darstellen, dann möchte ich auch gerne noch etwas sagen.“ Die Einsamkeit ist aus ihrer Schmollecke herausgekommen und hat ein bißchen Mut geschöpft. „Es ist nicht einfach, so ungeliebt und allein zu sein. Ich möchte auch dazugehören. Ich möchte auch mal willkommen sein und ins Herz geschlossen werden. Kann das denn keiner verstehen? Ich bin doch kein Miesmacher. Es gab so viele Situationen in der Vergangenheit, in denen ich zu Recht anwesend war. Aber ich durfte nicht dasein, ich durfte einfach nicht dazugehören. Ich hab es so satt. Ich möchte da sein, wo die freundlichen und gern gesehenen Kollegen sind. Ich will wahrgenommen und geliebt werden.“
Ein Nicken geht durch die Runde. Es sieht so aus, als wären sich die meisten einig. Und plötzlich blicken alle in eine Richtung.
Das Vertrauen hat bis jetzt noch kein einziges Wort geäußert. Es räuspert sich und beginnt dann mit einer freundlichen, unglaublich zuversichtlichen Stimme zu sprechen: „Ich habe euch allen zugehört, und ich möchte euch mitteilen, daß ich jeden von euch sehr gut verstehe. Ich bin schon sehr alt, und ich komme aus einer Zeit, in der es keine Zeit gab. Dort waren alle so wie ich. Alle wußten, daß alles seine Richtigkeit hat und daß alles, was ist, auch sein darf. Und ich glaube immer noch an diese Einstellung. Ich bin der tiefen Überzeugung, daß jeder von euch seinen festen Platz in einem Menschen hat und sehr wertvoll ist. Ihr alle — und es gibt ja noch ein paar Kollegen, die jetzt gerade nicht in der Runde sind — wir alle zusammen leben in einem Kontext, den man Liebe nennt. Wir alle sind Teil dieser Liebe und haben verschiedene Aufgaben inne. Wenn die Menschen das begreifen, dann sind sie vielleicht in der Lage, keine Unterschiede mehr zu machen zwischen angenehmen und unangenehmen Kollegen. Vielleicht sind sie dann auch in der Lage, jeden von uns zu seiner Zeit anzunehmen, zu akzeptieren und in ihr Herz zu schließen.“
Diese kleine Ansprache des Vertrauens löst einen Beifallssturm in der Runde aus. Plötzlich fühlen sich alle dazugehörig und verstanden.
Am Ende der Konferenz ist Samantha in O Cebreiro angekommen. Fast zwei Stunden ist sie unterwegs gewesen und hat an der Konferenz ihrer eigenen Gefühle teilgenommen.
Sie ist sehr beeindruckt und kann sich und ihre Gefühle jetzt viel besser verstehen. Es kommt ihr so vor, als hätte sie sogar mit einigen großes Mitgefühl. Und dann spürt sie noch einmal in sich hinein und kann sie alle wiedererkennen. Alle acht — und sie glaubt, inzwischen sind noch mehr dazugekommen — sie sind da, und alle scheinen sich im Augenblick zu verstehen. Die Traurigkeit ist nicht mehr so brennend, die Einsamkeit nicht mehr so allein, die Enttäuschung hat sich
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