So nah am Leben
sie die letzten zwei Tage noch einmal an sich vorbeiziehen läßt, kann sie sehen, daß es genau das ist, was den Unterschied macht. Es entsteht eine Art von Hingabe in ihr. Hingabe an alles, was sich zeigt, an alles, was sie erlebt, und auch an alles, was sie offensichtlich ist und was sie noch werden kann.
Heute möchte sie sich völlig dem Gefühl der Hingabe verschreiben. Sie möchte die Hingabe bewußt erleben und sich immer wieder daran erinnern, daß sie es ist, die ihr ganz augenscheinlich das schier unbeschreibliche und unerklärliche Gefühl von Frieden und Wohlgefühl beschert.
Sie steht vor dem Kloster und blinzelt in die Sonne. Die heutige Etappe bietet zwei Möglichkeiten, den Weg zu beschreiten: einen leichteren und einen sogenannten „camino duro“, den „harten Weg“. Sie entschließt sich für die leichtere Strecke und hofft, daß sie an der Abzweigung auch die richtige Richtung erwischt. Während sie sich noch einmal in ihrem Reiseführer informiert, tippt ihr jemand auf die Schulter. Maria steht hinter ihr. Ihre Füße scheinen heute wieder einigermaßen zu funktionieren, aber auch sie hat sich für die leichtere Strecke entschieden, und so starten sie gemeinsam.
In den ersten Minuten plaudern sie noch über den wunderbaren Abend des Vortages und beklagen sich scherzhaft ein wenig über ihre Schmerzen in den Füßen. Geteiltes Leid ist ja bekanntlich halbes Leid. Und dann kommen sie wieder darauf, was sie sich schon einige Male vorgenommen hatten, wenn sie sich auf diesem Weg trafen. Sie wollen sich mal einen Nachmittag lang gegenseitig mit dem verwöhnen, was sie können. Maria beherrscht die Fußreflexzonenmassage und Samantha die Cranio-Sacral-Therapie. Und so steht fest, daß sie nur bis Ruitelan gehen und sich dort in einem kleinen Hostal zur gegenseitigen Behandlung wieder treffen werden.
Eine Zeit lang kann Samantha das Tempo von Maria mithalten, dann laufen sie wieder getrennt, Maria vorweg und Samantha hintendran. Ihr Ziel steht fest und mit ihm auch die wunderbare Belohnung von Fürsorge und Pflege.
Es ist ein sehr beschwerlicher Weg, immer entlang der neugebauten Autostraße auf einem betonierten Fußweg. Die Straßenführung mit ihren zahlreichen Kurven hat den Nachteil, daß der Fußweg immer leicht schräg in sich ist und dem Gleichgewichtsgefühl des Körpers sehr zu schaffen macht. Irgendwie hat Samantha das Gefühl, daß die Füße sich nicht wie gewohnt aufsetzen lassen... sehr irritierend. Der Betonuntergrund quält ihre Sohlen, und nach zehn Kilometern kann sie sich fast nicht mehr auf den Füßen halten. Diese Umstände helfen ihr nicht, sich weiter dem Thema Hingabe hinzugeben. Sie ist nicht geübt darin, sich Schmerzen hinzugeben.
Gegen Mittag trifft sie dann Maria an ihrem Zielort. Gemeinsam suchen sie das Hostal, und während sie suchend durch den kleinen Ort wandern, schauen sie sich an, und ohne es auszusprechen, sind sie sich einig, daß dieses Dorf eine unerträgliche Energie ausstrahlt und daß sie auf keinen Fall hier bleiben wollen. Noch mitten in ihren Überlegungen sind sie vor dem Hostal angelangt, welches ihre Gedanken noch einmal verstärkt.
Was sollen sie jetzt tun? Samantha kann keinen Kilometer mehr gehen, und der Reiseführer weiß auch im nächsten Ort keine bessere Unterkunft. Trotzdem wollen sie es versuchen.
Maria möchte sich unbedingt jeden Meter auf diesem Camino erlaufen — das ist für sie wichtig und so macht sie sich auf, um die letzten drei Kilometer bis nach Hospital Inglés zu meistern. Samantha verspricht ihren Füßen, daß sie sich nicht mehr quälen müssen, und dann treffen sie sich in Hospital Inglés wieder und erfahren, daß es hier tatsächlich keine Bleibe für sie gibt.
Sie haben es sich so schön vorgestellt, und nun scheint diese Etappe zur Odyssee zu werden. Beide sind erschöpft und genervt. Ihre Stimmung ist auf dem Tiefpunkt angelangt.
Dann sehen sie ein Hinweisschild für ein Hotel. Es liegt ungefähr fünfhundert Meter zurück auf der Strecke. Es ist grotesk, in Anbetracht der Quälerei, jetzt auch noch zusätzliche Meter in die Richtung zurücklegen zu müssen, aus der sie kommen — sie tun es trotzdem. Auf diesen letzten Metern des heutigen Tages reden sie kein Wort.
Samantha denkt darüber nach, wie wunderbar ihre Stimmung heute morgen war und wie abgrundtief schlecht sie jetzt ist. Sie wollte sich doch heute den ganzen Tag hingeben... und dann wird ihr klar, daß sie genau das tut, ohne es zu
Weitere Kostenlose Bücher