So nah am Leben
Gesellschaft als auch den ihres Elternhauses.
Warum eigentlich nicht? Und dann hört sie sie zum ersten Mal bewußt — ihre „Herzstimme“.
Sie sagt: „Du hast Recht, sieh das Leben als ein Spiel an. Die Karten werden gemischt und ausgeteilt, und du machst das beste daraus. Nimm alles hin, und lebe in Verantwortung für dein Denken, dein Sagen und dein Handeln. Du kannst nur gewinnen, weil in diesem Spiel jeder gewinnt. Nimm dir in diesem Spiel ein Beispiel an mir: Werte nicht, und behandle alles mit Liebe und Güte. Und denke immer daran, in diesem Spiel wird für alle gesorgt.“
Als die Stimme wieder schweigt, ist Samantha sprachlos. Sie klingt ganz anders als die anderen Stimmen in ihr. Sie ist klar und von einer „herzlichen“ Wärme.
Samantha ist bei der Einsiedlerkirche San Esteban angekommen. Einsam steht sie da im Sonnenlicht. Sie fragt sich, wie die Kirche wohl entstanden ist, denn sie kann keine Häuser weit und breit sehen. Der Reiseführer gibt darüber auch keine Auskunft, läßt sie aber wissen, daß Sarria nicht mehr weit ist, was bedeutet, daß sie ihre Tagesetappe bald geschafft haben wird.
Sie kommt in der Mittagszeit in Sarria an. Gleich am Ortseingang findet sie ein Geschäft, in dem sie einen neuen Pilgerausweis bekommt. Kaum zu glauben, sie hat so viele Stempel auf dem Weg gesammelt, daß der dafür vorgesehene Ausweis bereits voll ist. Besonders die letzten hundert Kilometer muß man solche Stempel nachweisen, wenn man die sogenannte „Compostela“, die Urkunde, erhalten möchte. Und das möchte sie — auch wenn sie gar nicht weiß, warum. Es gehört einfach dazu.
Der Ort ist um diese Zeit und wahrscheinlich auch wegen der großen Hitze wie ausgestorben. An der Kathedrale trifft sie Anna und Vanessa, zwei siebzehnjährige deutsche Mädchen, die diesen Weg auch als ein großes Abenteuer erleben. Sie erzählen ein bißchen, und dann entscheidet sich Samantha weiterzugehen. Es ist viel zu früh am Tag, um in diesem verlassenen Nest zu bleiben. Der nächste Ort ist nur eine Stunde entfernt. Sie wird dort versuchen, eine Unterkunft für die Nacht zu bekommen.
Auf dem Weg nach Barbadelos durchquert sie eine Landschaft, die aussieht, als wäre sie gerade einem Film aus dem Mittelalter entschlüpft. Winzige Bachläufe in einem Mischwald, so wie sie ihn aus den Filmen von Robin Hood kennt — dunkel und mit uraltem Baumbestand.
Alte Teile des ursprünglichen Pilgerweges sind zu erkennen. Hochkant gestellte Schieferplatten liegen im Boden, rund geschliffen durch jahrhundertelangen Regen.
Für einen Moment spürt Samantha die Spirits der Menschen, die diesen Weg bereits gegangen sind, und ein Stückchen Mittelalter zeigt sich ihr, als in ihr so etwas wie ein Wissen um deren Qualen hervorgerufen wird. Fast glaubt sie, sie könnte deren Stöhnen und Jammern hören. Dann ist alles vorbei — in ihr ist wieder Ruhe.
Hinter einer Wegbiegung taucht plötzlich und unvermittelt ein Viadukt einer alten Brücke auf, ein Relikt aus alten Zeiten, das aus dem Nichts kommt und ins Nichts führt. Es gibt nichts, was es auf seinem Rücken trägt, keine Straße, keinen Weg. Es sieht aus wie die Kulisse aus einem Film.
Alles ist so unwirklich und so ungeheuer romantisch. Irgendwie glaubt Samantha, daß gleich eine Schar Rittersleute auf Pferden um die Ecke kommt, die ein Burgfräulein mit langen rauschenden Seidengewändern entweder kidnappen oder aber retten.
Hier möchte sie bleiben, und sie möchte ihren Vorstellungen dieser Zeit erliegen. Sie möchte ein Spiel daraus machen — so tun, als wäre es Wirklichkeit. Samantha breitet ihr Tuch unter dem Viadukt aus.
Sie hat viel Zeit zum Träumen. Dann fällt sie in einen tiefen Schlaf und träumt weiter...
...Sie ist in einem Haus mit einem riesengroßen Eingangsportal. Diese Halle hat unzählige Türen. Diese Türen sehen aus wie Spielkarten, auf denen Szenen des Lebens abgebildet sind. Außer ihr sind noch andere Menschen da. Einige kennt sie, andere nicht. Jeder von ihnen darf sich eine Tür aussuchen und kann dann hindurchgehen. Sie zögert und beobachtet erst einmal, was andere tun. Als die erste Frau durch eine Tür mit einer großen Schultüte geht, kann sie die Erlebnisse ihres ersten Schultages für einen sehr kurzen Moment miterleben. Sie sieht die Vorgänge nicht hinter der Tür, sie kann sie in ihren Gedanken sehen.
Ein junger Mann geht durch eine Tür, auf der viele Kinder abgebildet sind. Er tritt hindurch, und Samantha kann
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