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So nah am Leben

So nah am Leben

Titel: So nah am Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inaqiawa
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gezogen hat. An diesem Tag hat das Spielen Spaß gemacht!

Ängste

    Ängste sind die Manifestation des Mangels
    durch den Verstand.
    Das Vertrauen, daß das Leben Überfluß bietet,
    schließt Angst in die Liebe mit ein.

    Nur noch einhundert Kilometer.
    Nur noch eine Woche und alles ist vorbei.
    Mit diesen Gedanken wird sie wach.

    Seit achtundzwanzig Tagen spielt sie nun dieses Wanderspiel mit seinen eigenen Regeln. Die Wochen haben sie dem ganz normalen Alltag völlig entrissen. Sie lebt in einer Welt, die sehr real ist und ihr doch irreal vorkommt. Vier Wochen mit sich allein — seit vier Wochen ist sie sich so nah wie noch nie in ihrem Leben. Die Aspekte, die sie über sich und das Leben erfahren hat, werden ihr Leben nachhaltig bereichern und verändern.

    Und es ist noch nicht vorbei.
    Es bleibt ihr noch etwas mehr als eine Woche.

    Wenn Samantha zurückblickt, dann kann sie sagen, daß es eben mehr war als vier einzelne Wochen. Mit jeder Woche nahm die Intensität ihrer Gedanken und des Erlebens zu. Ihr fällt die Redewendung ein: „Der Wald ist mehr als die Summe seiner Bäume.“ So kommt es ihr auch mit dieser Zeit vor. Die Intensität der vierten Woche ist nicht nur eine Summierung von vier einzelnen Wochen. Die Realität zeigt, daß jeder einzelne Tag kleine Quantensprünge beinhaltet. Es sind die intensivsten Wochen ihres Lebens.

    Und bis jetzt gab es keine unüberwindlichen Schwierigkeiten. Sie hat einige jüngere und wesentlich ehrgeizigere Pilger gesehen, die diesen Weg abbrechen mußten, weil sie es gesundheitlich nicht schafften. Samantha wundert sich und bewundert ihren Körper jeden Tag aufs neue . Abgesehen von den Schmerzen in ihren Sohlen, gibt es keine Beanstandungen. Alle Gelenke, die Wirbelsäule und die gesamte Muskulatur verhalten sich, als hätten sie nie weniger Strapazen erlebt. Dabei hat sie in den letzten Jahren nicht gerade die Sportskanone abgegeben. Und so strahlt sie innerlich und äußerlich über den Zustand ihres Körpers. Samantha ist rundum zufrieden.

    Auch sonst kann sie sagen, daß sie keine wirklich unangenehmen Situationen erlebt hat — alles ist bis jetzt sehr glatt gelaufen, ja mehr noch: Die Umstände sind kommod.
    Auch mit der Zeit- und Etappeneinteilung hat sie stets ein gutes Händchen bzw. Füßchen gehabt. Alles fügte sich zur richtigen Zeit, ohne daß sie sich viele Gedanken darüber machen mußte. Und nun bleiben noch einhundert Kilometer und reichlich Zeit.
    Sie kann sich kleine Etappen vornehmen, sich Zeit lassen und versuchen, die Gegenwart zu genießen — auch wenn sie bereits einen kleinen Trennungsschmerz verspürt. Der darf sein — aber noch nicht heute. Heute will sie erst einmal wieder losziehen, eventuell nur bis an den großen Staudamm vor Portomarin. Vielleicht ist es dort ja ganz nett und sie hat Lust, dort zu übernachten... Samantha wird alles auf sich zukommen lassen.

    Als sie unten die Bar ihres Hostals betritt, steppt dort der Pilgerbär. An den Tischen ist kein Platz mehr frei, und mit einem Blick auf die Uhr sieht sie, daß all diese Peregrinos bereits ihre erste Pause einlegen und sich — im Gegensatz zu ihr — ihr Frühstück bereits redlich verdient haben. Die meisten haben die ersten zwölf Kilometer von Sarria bereits hinter sich. Einige Gesichter kennt sie, und dann entdeckt sie Anna und Vanessa von gestern. Sie machen einen etwas gequälten Eindruck. Anna ist ziemlich verstört, und auf ihre Frage, was passiert sei, will sie gar nicht antworten.

    Vanessa nimmt Samantha zur Seite und erzählt ihr, was unterwegs geschehen ist. Sie sind ganz frühmorgens noch im Dunkeln losgegangen. Irgendwo zwischendrin haben sie ihre Rucksäcke dann abgesetzt, und Anna hat nicht darauf geachtet, wohin sie ihn stellte. Sie haben überhaupt nicht daran gedacht, daß auf diesen Straßen hier mehr Kühe als Autos verkehren, und so hat Anna den Rucksack bedauerlicherweise mitten in einen Kuhfladen gestellt. Das Schlimme daran ist jedoch, daß sie es selbst gar nicht gemerkt hat. Vanessa und Anna haben sich dann in der Dunkelheit über den furchtbaren Gestank aufgeregt, und es hat ein bißchen gedauert, bis sie begriffen, daß es Anna ist, die so stinkt, und daß ihr die ganze Geschichte langsam vom Rucksack auf die Hose und auf die Schuhe getropft ist... und nun hat sie ihre liebe Mühe, den ganzen Sch... dreck wieder wegzubekommen.

    Samantha sieht zu Anna hinüber. Ihr Mitgefühl ist ihr sicher. Sie zeigt ihr eine Waschmöglichkeit im Hof des

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