So nah am Leben
stehen, ihre Augen suchen etwas in der Feme. „Das würde bedeuten, daß unser Vertrauen in das Leben die Angst bestehen lassen kann, ja noch mehr, daß auch die Angst ein geliebter Anteil in uns sein darf.“ Sie dreht sich zu Samantha um und schaut ihr in die Augen. Für einen Moment sieht es so aus, als wolle sie etwas sagen. Sie holt tief Luft, hält sie für einen kurzen Augenblick an und... bricht dann ab.
Samantha hat auch das Gefühl, daß den letzten Worten im Moment nichts mehr hinzuzufügen ist. Sie sieht die Dinge genauso wie Anna, und die Erkenntnis darüber verbreitet in ihr ein Gefühl des Wohlbehagens.
Und so bleibt es. Samantha und Anna gehen schweigend miteinander weiter, bis sie nach Stunden in einer Herberge ankommen.
Realität
Der Realität ist es gleichgültig,
ob wir sie bemerken oder nicht.
Aber uns sollte es nicht gleichgültig sein,
ob wir sie (für-) wahr- nehmen oder nicht!
Die Verweigerung der Realität verhindert
die Präsenz in der Gegenwart!
Die Nacht hat kaum Abkühlung gebracht. Samantha läuft in der Dämmerung los, und ihr Herz füllt sich mit dem Anblick der Natur. Die Morgennebelschwaden hängen in den Tälern. Über den Baumwipfeln des vor ihr liegenden Tals hinweg kann sie drei weiter entfernte Bergketten sehen. Dazwischen blaßblauer Bodennebel. Milchig weißer Nebel um verschleierte Baumkronen. Ein leichter Rosaton kündigt die aufgehende Sonne an. Es fällt ihr schwer zu gehen. Immer wieder bleibt sie stehen und blickt in die Täler. Das Schauspiel verändert sich von Minute zu Minute, und ihr Herz droht zu zerspringen, so voll ist es mit dieser morgendlichen Energie.
Der Nebel taucht alles in eine dumpfe Hülle. Sie hat das Gefühl, daß die Wirklichkeit gedämpft, verschwommen ist. Aber auch diese verschwommene Wirklichkeit ist Wirklichkeit — oder nicht?
Was ist denn überhaupt Wirklichkeit? Was ist Wahrheit? Und was Realität?
Oh nein, jetzt noch nicht, bitte! Keine so schwierigen Gedanken am noch so jungen Morgen. Sie möchte erst noch diese herrliche Aussicht, diesen famosen Zustand auskosten. Keine ernsthaften Gedanken, bevor der Nebel sich gelichtet hat. Sie nimmt diesen zweideutigen Gedanken als Beschluß und läßt sich einfach nur SEIN. Sie geht, geht und genießt.
Drei Stunden lang. Bis sie in Palas de Rei ankommt und sich eine lange Pause gönnt. Es scheint so, als würde heute der heißeste Tag ihrer Wanderung werden. Es ist erst elf Uhr und die Sonne brennt erbarmungslos.
Mit der Pilgerruhe ist es in diesen Tagen vorbei. Seit sie die Hundert-Kilometer-Marke überschritten hat, hat der Pilgerstrom sich vervielfacht. Familien mit Kind, Mann, Maus und Hund sind unterwegs. Alles, was diese hundert Kilometer schaffen kann, ist jetzt auf dem Weg nach Compostela. Die Urkunde zu Hause vorzuweisen, scheint unsagbar wichtig. Und jeder bekommt sie, wenn er durch Stempel nachweisen kann, daß er diese letzten hundert Kilometer zu Fuß vollzogen hat.
Das darf doch nicht wahr sein, denkt sie beim Weitergehen, und — schwups — ist sie wieder im Thema: Was ist denn schon wahr?
Um diesen Begriff der Wahrheit, der Wirklichkeit, streiten sich die Verstandesgeister vermutlich schon seit Urzeiten. Das müssen sie ja auch, denn schließlich ist es ihre Aufgabe, recht zu behalten, und da muß es dann auch so etwas wie Wahrheit und Wirklichkeit geben, sonst würde sich das „Rechtbehalten“ auch noch in „Wohlgefallen“ auflösen — für den Verstand undenkbar.
Und für sie? Seit vielen Jahren beschäftigt sie sich nun schon damit, daß es so viele Wahrheiten wie Menschen gibt — jetzt müßte sie eigentlich noch hinzufügen: Jeder Verstand hat seine eigene Wahrheit, seine eigene Wirklichkeit.
Aber was ist das überhaupt, die Wahrheit, die Wirklichkeit? Es scheint so etwas wie eine Lebenseinstellung zu sein, und es hat etwas mit unserer Wahrnehmung zu tun. Wenn sie sich das Wort einmal näher betrachtet, dann enthält das Wort „wahr-nehmen“: etwas für „wahr annehmen“. Und das kann sie nur gemäß ihrem eigenen Wertesystem und gemäß ihrer Intention. Wir alle kennen das: Wenn wir ein neues Auto haben, kreuzen plötzlich ganz viele dieser Autotypen auf den Straßen auf. Oder wenn wir an einer bestimmten Krankheit leiden, dann wird plötzlich in allen Zeitungen darüber berichtet. Oder noch besser: Wenn wir über das Thema Schwangerschaft nachdenken oder sogar selbst schwanger sind, dann begegnen wir auf einmal nur noch schwangeren
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