So nah am Leben
Frauen oder Frauen mit Säuglingen.
Auch das macht unser Verstand. Er richtet unsere Wahrnehmung tendenziell aus. Und aus dieser Wahrnehmung kann dann sehr schnell unsere Wahrheit werden.
Samantha geht davon aus, daß unsere Wahrheit nicht „falsch“ oder „richtig“ ist, sondern eben nur „unsere“ Wahrheit, und damit umfaßt sie lediglich unseren Teil einer möglicherweise bestehenden Wahrheit. Wenn mehrere Menschen ein und dieselbe Situation beurteilen, dann können die geschilderten Aspekte alle unterschiedlich sein, und doch müssen sie nicht falsch sein. Vielleicht ergeben alle geschilderten Aspekte zusammen einen größeren Teil einer übergeordneten Wahrheit.
Wenn das so wäre, dann könnte man sagen, daß Wahrheit ein Kontext für alle existierenden Wahrnehmungen ist. In diese Wahrheit passen und gehören alle Wahrnehmungen. Jede Wahrnehmung ist damit richtig — und nur ein Teil des Ganzen.
Diese Gedanken begeistern Samantha im Augenblick sehr. Sie hat das Gefühl, daß das Wort „Kontext“ auf dieser Reise immer mehr „Leben“ erhält. Sie kann es nicht nur artikulieren, jetzt kommt auch noch ein passendes Gefühl dazu. Das Gefühl des „innerlichen Begreifens“, was damit gemeint sein könnte. Und so wird in diesem Moment das Wort „Kontext“ von einem Schlagwort zu ihrem inneren Bewußtsein.
In solchen Momenten dankt Samantha der Göttin, daß sie so privilegiert ist, diese lange Wanderung machen zu dürfen. Es sind die Momente der Demut, der Dankbarkeit für die vielfältigen Möglichkeiten des Lebens.
Die sengende Hitze wird beim Gang durch die galicischen Hohlwege gemildert. Sie sind romantisch, manchmal fast verspielt, und machen das Laufen zu einem Genuß. Hohe Hecken oder Bäume säumen die schlichten Wege. Bewachsene Aufschüttungen oder alte Mauerreste mit wildsprießenden Blumen und Sträuchern lassen die Strapazen zu einem Sonntagsspaziergang werden.
Heute geht sie den ersten Tag völlig schmerzfrei. Nach mehr als sechshundertfünfzig Kilometer Fuß-Martyrium hat sich Samantha Erleichterung durch Schmerztabletten verschafft und genießt das sehr.
Sie hat lange darüber nachgedacht, ob sie ihr körperliches Alarmsystem außer Gefecht setzen darf und soll. Ob sie ohne den Alarmgeber in sich dennoch das Richtige tut. Und ihr Wunsch, die letzten Kilometer ohne Schmerzen zu laufen, hat gesiegt. Mit dem Versprechen, welches sie sich selbst gegeben hat, keine langen Tagesstrecken zu laufen, und der Tatsache, daß es nur noch wenige Kilometer und noch sehr viele Tage bis nach Compostela sind, ist sie das Risiko schließlich eingegangen. Was an Anstrengung und Strapaze übrigbleiben wird, reicht immer noch für die Ernsthaftigkeit dieses Weges.
Inzwischen ist sie weitere neun Kilometer gelaufen, in Leboreiro angekommen und fühlt sich prächtig. Hier trifft sie das junge polnische Paar wieder. Sie wollen in der nächsten Woche in Compostela heiraten und haben sich gemeinsam diesen langen Pilgerweg auferlegt, um noch einmal zu testen, ob es die richtige Entscheidung ist. Die junge Frau trägt ihr Hochzeitskleid den ganzen Weg in ihrem Rucksack mit sich.
Diese Idee findet Samantha unglaublich mutig und schön zugleich. Die beiden nehmen die ursprüngliche Idee des Pilgerweges sehr ernst. Mit dem Erreichen von Compostela sind ihnen alle Sünden erlassen, und so sind sie beide frei von allem Ballast, wenn sie in ihre gemeinsame Ehe eintreten. Das hat doch etwas für sich, oder?
Und sie trifft hier auch Paul aus Antwerpen wieder. Paul ist siebzig Jahre alt und läuft den Camino bereits zum siebten oder achten Mal innerhalb von zehn Jahren. Er ist ein liebenswerter und sehr behutsamer Mann.
Er erzählte ihr bei einer anderen Begegnung, daß er von einem Kloster aus der Nähe seines Heimatortes einen Teil eines alten Eichenstammes geschenkt bekommen hat. Daraus schnitzt er im Winter Wanderstäbe für seinen nächsten Weg und vor allem Jakobsmuscheln, die er während seiner Tour verschenkt.
Samantha befindet sich in einer derart guten Stimmung, daß sie sich noch eine kleine Etappe für den heutigen Tag vornimmt. In diesem kleinen Dörfchen ist nichts los, und es ist noch so früh am Nachmittag. Die nächste Station scheint hingegen vielversprechender zu sein. Und mit ihrem heutigen Thema ist sie auch noch nicht fertig. So räumt sie ihren Rucksack wieder ein und macht sich auf den Weg nach Melide.
Da sie den ganzen Tag den Genuß hatte, durch Hohlwege zu gehen, ist sie gar
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