So nah am Leben
keine Angst bei ihr zeigt. Seit vielen Tagen schon lebt sie vielmehr aus ihren Gefühlen heraus, als mit ihrem Verstand.
Samantha ist inzwischen in Portomarin angekommen und hört bereits von weitem, daß schon wieder eine Fiesta gefeiert wird. Die Spanier und ihre Fiestas!
Sie überlegt, ob sie diesen Rummel erneut aushalten möchte. Wohl eher nicht. Doch sie will mit ihrer Entscheidung noch ein wenig warten. Zunächst einmal schaut sie sich das Örtchen an, nimmt die Atmosphäre in sich auf und macht in dem kleinen Restaurant vor der Kathedrale Mittagspause. Ihr Salat wird gerade in dem Augenblick serviert, in dem ein Bus hält und eine Gruppe von Musikern aussteigt. Während sie speist, bauen die Musiker ihre Instrumente auf und stimmen sich auf liebevolle, aber äußerst unharmonische Art und Weise ein. Der ganze Akt dauert genauso lange, wie Samantha braucht, um ihren Salat zu essen. Danach steht ihre Entscheidung fest: zahlen und dann nichts wie weg. Keinen Rummel heute!
Die Mittagssonne brennt vom Himmel, und sie bedankt sich wieder bei den Galiciern, daß es hier so viele schattige Hohlwege gibt. Eine ganze Stunde lang genießt sie den Gang im Schatten, bis sie unerwartet auf eine Asphaltstraße wechseln muß. Nach einer weiteren Stunde bedauert sie zutiefst, daß sie weitergegangen ist. Seit einer ganzen Stunde kein Schatten mehr. Ihre Socken sind mit Schweiß durchtränkt, bei jedem Schritt fühlt sie die Pfütze in den Schuhen. Ihre Hose, ihr T-Shirt, einfach alles klebt am Körper, und sie fühlt sie völlig ausgedörrt, trotz des Wasserverbrauchs.
Ihr Entschluß steht fest: Der nächste schattenspendende Baum wird ihrer. Doch es dauert noch weitere fünfzehn Minuten, die ihr unendlich erscheinen. Jeder Schritt — jede Minute — eine Tortour. Dann sieht sie bereits von weitem ein kleines Wäldchen. Die Rettung ist nahe, und ihr Schritt wird wieder schneller — ihre Stimmung bessert sich zusehends.
Sie ist nicht allein auf der Welt. Das sieht sie, als sie auf den ersten Baum zusteuert, den sie sich ja versprochen hatte. Dort sitzt bereits eine junge Frau, die offensichtlich ähnlich wie sie dachte. Also nimmt sie ein paar Meter weiter den nächsten Baum und breitet darunter ihre Sachen aus. Eigentlich ist sie im Moment nicht in der Stimmung für ein Gespräch. Als erstes will sie ihre Schuhe und Strümpfe von den Füßen bekommen, damit sie trocknen können. Auch die junge Frau sieht irgendwie abwesend aus, so als hätte sie Samantha nicht wirklich wahrgenommen. Ist okay, denkt Samantha.
Dann, auf einmal, spricht die Frau mit gequälter Stimme, wobei sie in Samanthas Richtung sieht: „Hier vor mir liegt eine Maus in ihren letzten Zügen. Was soll ich nur tun? Soll ich sie totschlagen?“
Mit ihren Schuhen beschäftigt, hat Samantha erst einmal aufgeschaut, um die Situation zu erfassen. Da brechen lauter Tränen aus der Frau heraus: „Ich kann das nicht, ich kann das nicht! Was soll ich denn nur tun?“ Die junge Frau schluchzt heftig, und Samantha registriert, daß es hier um mehr geht als um eine sterbende Maus.
Barfuß auf dem Waldboden und dann wieder in die Strümpfe... das ist heikel. Bliebe auch nur ein einziges kleines Sandkorn hängen, wäre eine Blase vorprogrammiert. Samantha sucht in ihrem Rucksack nach den trockenen Socken, zieht sie an und schlüpft wieder in ihre Schuhe, um zu der jungen Frau hinüberzugehen.
Da ruft die Frau ihr auch schon entgegen: „Ich wollte Sie nicht verärgern, Sie müssen nicht gehen, ich komme schon damit klar.“ — „Nein, nein, ich habe die Schuhe angezogen, weil ich zu Ihnen kommen wollte. Das ist in Ordnung.“ — „Oh, Gott sei Dank, ich hatte schon Angst, ich hätte Sie jetzt vergrault.“
Und als Samantha bei ihr angelangt ist, fährt sie fort: „Ich bin Anna. Ich kann sie nicht erschlagen, ich kann das nicht.“
Samantha legt ihre Hand auf den Arm der jungen Frau und sagt ihr, daß es gut sei. Alles ist gut, sie muß nichts machen. Dann schaut sie sich die Maus an. Anna hat Recht, das kleine Tier ringt mit dem Tod. Samantha sucht sich etwas, worauf sie die Maus legen kann, um sie nicht in die Hand nehmen zu müssen, und findet etwas Pappe. Dann bringt sie die Maus aus dem Blickfeld der jungen Frau. Sie geht ein Stück in das Wäldchen hinein und legt sie sanft ins Gras. Sie gibt ihr ihren Segen und bitte um Begleitung der kleinen Seele in die Anderswelt. Dann übergibt sie die Maus in die universelle Energie. Es wird geschehen,
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