So nah bei dir und doch so fern
reges Gesellschaftsleben eingebunden, steckten mitten in den Vorbereitungen für ein Dinner mit Freunden. Nachdem sie den Anruf bekommen hatten, stellten sie das Abendessen auf den Tisch, baten die Gäste, sich selbst zu bedienen, packten ihre Reisetaschen und brachen zu einer einsamen und nervösen Fahrt über 160 Kilometer durch Schnee und Nebel auf.
Drei Stunden später waren sämtliche Eltern versammelt, um den Bericht des behandelnden Arztes zu hören. Ich hatte eine rechtsseitige vertebrale Aortendissektion und -okklusion erlitten, was zu einem akuten Infarkt in der Hirnbrücke geführt hatte. Laienhaft ausgedrückt hieß das, ein großer Pfropfen saß in der Hauptschlagader und verhinderte die Blutversorgung des Gehirns. Die Computertomografie zeigte schwere Schädigungen, und die Prognose war düster. Der Schaden befand sich in einem derart sensiblen Bereich, dass die Ärzte nicht operieren konnten. Die einzige Alternative bestand in der Verabreichung von Medikamenten, die das Blutgerinnsel auflösten, doch die Ärzte waren sich nicht sicher, ob es dafür nicht schon zu spät war. Es handelte sich um ein so spezielles Fachgebiet, dass sie den Rat von Experten einholen mussten, und einige der führenden Neurologen des Landes hatte man bereits zu Hause kontaktiert.
Mark und meiner Mutter reichte das nicht, sie wollten mehr wissen. Sie baten um konkretere Auskünfte, doch zu diesem Zeitpunkt gab es keine.
»Es ist ziemlich ernst«, war alles, was der Arzt sagen konnte. »Wir müssen sie über die nächsten Stunden bringen. Die nächsten Stunden sind entscheidend.« Mark, dem das Ausmaß der Situation damit noch immer nicht klar war, ließ nicht locker.
»Heißt das, dass sie die Nacht möglicherweise nicht überleben wird?«, fragte er.
»Die Chance steht bestenfalls fünfzig zu fünfzig«, lautete die Antwort.
Meine Familie wartete, und aus Minuten wurden Stunden. Für den Einsatz der Blutgerinnsel auflösenden Medikamente war es zu spät, daher beschlossen die Ärzte, die einzige Möglichkeit, mich lebend über diese Nacht zu bringen, bestünde in der Stilllegung meines Körpers. Ich wurde auf die Intensivstation gebracht und an die Maschinen angeschlossen, die mich künstlich am Leben erhalten würden. Mark und meine Mutter blieben an meiner Seite und warteten auf einen winzigen Hoffnungsschimmer, doch da war nichts: nur das Zischen des Atemgeräts und das hypnotisierende Piepsen des Herzmonitors. Um drei Uhr morgens schickte man sie nach Hause. Sie konnten nichts mehr tun. Sie konnten lediglich warten. Als sich auf dem Weg zum Auto die Schleuse der Intensivstation öffnete, fielen sie sich in Tränen aufgelöst in die Arme, weil ihnen die Schwere meiner schier aussichtslosen Lage noch einmal bewusst wurde – sie würden mich vielleicht nie mehr lebend wiedersehen. In dieser Nacht betete meine Mutter, und Mark schlief: den Schlaf eines ausgepowerten und machtlosen Mannes.
KAPITEL 4
Acht von zehn ist schlecht
W ährend ich im künstlichen Koma lag, lief für meine Kinder die Schule normal weiter. Mark hatte beschlossen, sie alle bräuchten eine gewisse Stabilität in ihrem Leben, für seinen Verstand ebenso wie als Schutz für die Kinder. Er wusste, dass er zusammenbrechen würde, sobald er es sich auch nur eine Sekunde erlauben würde, innezuhalten und sich zu viele Gedanken über die Situation zu machen. Genauso wusste er, dass ich meine ganze Aufmerksamkeit immer unseren Kindern gewidmet hatte, und wenn er sie jetzt vernachlässigte, würde ich zurückkommen und ihn als Geist heimsuchen. Außerdem, was sollte er den Kindern denn ehrlich sagen, wo er doch selbst nicht wusste, was ihm gerade widerfuhr?
Am Abend zuvor waren die Kinder in dem Wissen zu Bett gegangen, dass ich krank war, und als sie aufstanden, fanden sie eine leere Küche vor, in der ich gewöhnlich ihre Müslischalen gefüllt und herumgemeckert hätte, sie sollten endlich voranmachen. Beim Frühstück teilte Mark ihnen mit, Mama läge sehr krank im Krankenhaus, aber alles müsse normal weiterlaufen wie bisher.
»Ich fahre euch zur Schule, und wenn ihr nach Hause kommt, ist alles in Ordnung.« Das entsprach zwar nicht der Wahrheit, doch sie schienen es zu akzeptieren.
Für Mark und Alison war es gleichermaßen schwierig, als sie die Kinder zur Schule brachten und von dort abholten. Alison vermied jeden Blickkontakt und sprach mit keiner der anderen Mütter aus Angst, die Fassung zu verlieren. Als sie sich in den frühen
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