So nicht, Europa!
Pressemitteilung in den Computer. »Entschuldigung«, sagt er irgendwann, »ich brauche einfach diese
Newsroom-Atmosphäre.« Martin fühlt sich noch immer als Journalist, oder vielmehr, wie er selbst sagt, als »Hecht im Karpfenteich«.
Er beschreibt sich als unverkleideter Wallraff,
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im E U-Parlament , gewissermaßen.
Martin schreibt Bücher, Martin schreibt Kolumnen, Martin prangert die Verschwendungssucht der Kommission an, die Faulheit
seiner Abgeordnetenkollegen, die Intransparenz des Rates und die Selbstherrlichkeit des Brüsseler Führungspersonals. »Es gibt
zwei Typen von Journalisten in Brüssel«, erklärt Martin den Anspruch an seine Arbeit »Die einen kommen her, um hier alles
in Schutt und Asche zu legen. Die anderen haben sich schon viel zu stark einbinden lassen von dem System.« Statt hinzuschauen,
schauten sie weg. Die meisten in Brüssel akkreditierten Journalisten »machen ihren Job nicht richtig«. Deshalb, glaubt Martin,
müsse er einspringen.
Das Telefon klingelt. Der abgeordnete Enthüller muss hinunter in den Plenarsaal, zur Abstimmung. In dem riesigen Rund, das
die Stuhlreihen bilden, sitzt Hans-Peter Martin weit außen am Rand. »Gleich hinter mir haben sie diese Rechtsradikalen hingesetzt«,
beschwert er sich. »Auch so eine kleine Infamie.« Dabei könne doch niemand, der ihn kenne, so beteuert er, daran zweifeln,
dass seine Überzeugungen ursozialdemokratisch und pro-europäisch seien. »Mir wurde das Label des E U-Gegners angehängt«, sagt Martin. »Ich bin aber kein E U-Gegner . Ich bin ein E U-Kritiker . Das ist doch nicht dasselbe.« Doch der Kritiker Martin redetund agiert mit der Wut eines Extremisten. Im Abstimmungssaal, wenn die allermeisten anderen bei Ja die Hand heben, lässt er
sie unten. Stimmt die Mehrheit mit Nein, votiert Martin mit Ja. Er wirkt permanent, als wolle er seiner Umgebung etwas heimzahlen.
»Sie kriminalisieren mich«, sagt er mit einer ausladenden Handbewegung. »Ein Kollege sagte neulich, ich sei ja wohl reif für
die Psychiatrie.« –
Sie
, das ist laut Martins eigener Wortwahl die »ver kommene Elite« der E U-Politiker . Sie sei, schreibt Martin in einem seiner Bücher, »noch viel schlimmer als ihr Ruf«.
Der Österreicher verkörpert wie kein anderer die Tragik der E U-Kritik . Je verbissener er versucht, sich aus der Ecke der dumpfen Europafeinde herauszukämpfen, desto tiefer gerät er hinein. So
wandert ein Mann, an dessen Insiderwissen und Themengespür sich die EU an vielen Ecken gesundstoßen könnte, schnurstracks
in die Europakritiker-Falle. Martin, der Unverstandene, Martin, der Ausgestoßene, prügelt drauflos, schlägt um sich und schreit
wie ein Opfer grausamen Unrechts. Ein wenig lassen sich diese quichottischen Wallungen nachvollziehen. Es ist traurig, aber
verständlich, dass im harmoniesüchtigen Brüsseler Habitat ein streitbarer Geist wie Martin umso mehr zum Außenseiter wird,
je mehr er das Klima um sich herum als inquisitorisch empfinden muss. Schade bloß, dass er in der Pose des Märtyrers erstarrt.
Zum Abschied prophezeit Martin »das Ende von Wohlstand und Demokratie«, wenn die EU sich nicht grundlegend reformiere. »Es
gibt hier zu viele fette Karpfen, wissen Sie«, sagt er mit dem Gesichtsausdruck eines großen Geheimnisbewahrers. Ein bisschen
leiser wäre besser, weil glaubwürdiger gebrüllt.
Schließlich gibt es sie ja, die Politiker der Mitte, die ebenfalls mit den Füßen scharren, die jetzt, endlich einmal, mehr
mit dieser EU anstellen wollen als eine Systemdiagnose nach der anderen zu betreiben. In Lissabon sitzt die Bundeskanzlerin
an einem warmen Herbsttag 2007 vor einer blauen Sternenwand. Nach einer anstrengenden Verhandlungsnacht ist ihr anzumerken,
dass sie eigentlich keine Lust mehr hat, Journalistenfragen zum soeben paraphierten Reformvertrag zu beantworten. Vielleicht,
lässt Angela Merkel durchblicken, könnte sich diese Union der 27 stattdessen jetzt endlich einmal darüber unterhalten, was
sie eigentlich in der Welt erreichen wolle. Darüber zum Beispiel, ob die Aufgaben von vor 50 Jahren für immer die Aufgaben der Europäischen Unionbleiben müssen. Oder darüber, »welche Interessen Europa in Bezug auf die Globalisierung hat«. Daraufhin macht sich Schweigen
breit im Presserund. Es folgt eine kritische Nachfrage zum Flugverhalten der europäischen Regierungschefs. Mussten die denn
wirklich alle in ihren eigenen Maschinen nach
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