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So nicht, Europa!

Titel: So nicht, Europa!
Autoren: Jochen Bittner
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Portugal einschweben? Welch ein immenser CO 2 -Ausstoß! Sei das denn vorbildlich? – Die Kanzlerin seufzt.
    Zu Fragen über den tagesaktuellen Tellerrand hinaus sind die Medien selten aufgelegt. Zu gesättigt, zu heißgelaufen sind sie
     von den technischen Fragen der E U-Reform oder der nächsten Schraubendrehung der Krisenbewältigung. Um Grundsatzfragen über Aufbau, Funktionsweise und demokratische
     Defizite der EU zu stellen, fehlt regelmäßig der konkrete Anlass – und zwar paradoxerweise genau deswegen, weil
jeder
Tag solche Anlässe böte. Doch überschaubare Geschichten und kleine Skandale sind nun einmal beliebter beim Leser als lange
     Features über systemische Zusammenhänge. Manchmal können sie einem leid tun, die Brüsseler Journalisten. Sie sind dazu verurteilt,
     mit dem schmalen Pinselset nationaler Journalisterei europäische Gemälde zu schaffen. Es gibt gleichwohl Einblicke, die sich
     zu saftigen Vanitas-Bildern eignen würden. Dummerweise gilt ausgerechnet für sie ein Zeichenverbot.
    »Europäischer Rat   – Abendessen«
,
verkündet die SMS
, »
der Nachtisch wird jetzt serviert.« Die Kurzmitteilung kommt von der deutschen E U-Vertretung . Jeder Journalist, der sich in Brüssel akkreditieren lässt, kommt auf den Handy-Leitstrahl ihrer Presseabteilung. Nachtisch,
     das heißt, es kann noch eine Stunde dauern, bis die Kanzlerin zum Hintergrundgespräch eintrifft. Das deutsche Journalistencorps
     macht sich trotzdem schon einmal auf den Weg ins edle Brüsseler Hotel Amigo. Nach jedem Treffen des Europäischen Rates lädt
     die Kanzlerin die Europakorrespondenten hierher ein. Das Fünf-Sterne-Hotel liegt gleich hinter der mittelalterlichen Grand
     Place von Brüssel, in einer der vorzeigbaren Ecken der Stadt. Es wird meist nach Mitternacht, bis die Staatschefs ihr gemeinsames
     Abendessen beendet haben und Merkel hier eintrifft. Bis dahin werden die Reporter von zuvorkommenden Kellnern mit Häppchen,
     Bier und Wein versorgt. Zeit, die neuesten Neuigkeiten und Werturteile auszutauschen. Hat Merkel sich nun durchgesetzt gegenüber
     den anderen Staatschefs oder nicht? Die Meinungen gehen wie üblich auseinander. Nachrichten sind manchmal Ansichtssache.
    Sobald die Kanzlerin im Foyer erscheint, legen die Journalisten die Kanapees beiseite und greifen nach ihren Notizblöcken.
     Wenn sich die Flügeltüren des reservierten Saales »Ambassadeur« schließen, wissen sie, dann öffnet sich die Kanzlerin. In
     der vertrauten Runde erfahren die Berichterstatter recht viel Intimes von der Kommandobrücke des Raumschiffs Brüssel. Doch
     nichts davon darf in die Öffentlichkeit gelangen. Das sind die Regeln des so genannten »Kamingespräches«. Es ist zwar kein
     Kamin, vor dem die Kanzlerin und die Journalisten Platz nehmen, sondern ein flämischer Wandteppich mit einer romantischen
     Fantasielandschaft darauf. Nichtsdestotrotz ist alles, was sie in dieser Runde sagt, tabu.
    Nicht verboten ist freilich zu sagen, was sie
mit
dem sagt, was sie sagt. Mit dem, was sie sagt, sagt sie zum Beispiel, dass die EU oftmals ähnlich simpel funktioniert wie
     ein Brettspiel. Dass die Auseinandersetzungen im Rat so spannend sein können wie ein W M-Endspiel . Dass manchmal ganz einfach die Charaktere und Launen von Regierungschefs, stammen sie nun aus Rom, Paris oder Warschau,
     den Ausschlag geben können für wichtige Entscheidungen. Das Vokabular der Kanzlerin steckt an solchen Abenden voll mit Kardinaltugenden
     und ‑sünden, mit Vornamen europäischer Staatschefs und mit einfachen, deutlichen Worten. Wer an den Türen lauschen würde,
     würde gelegentlich herzhaftes Gelächter hören. Da ist es, das Drama, das Europaberichterstattung zu einer spannenden Sache
     machen könnte. Doch sich in der Öffentlichkeit gegenseitig so zu behandeln wie sie zu Hause die Opposition behandeln würden,
     das trauen sich die E U-Staatschefs nicht. Europa könnte ja, wie furchtbar, uneinig erscheinen.
    Wenn sich die Saaltüren wieder öffnen und die Regierungschefin in die Fernsehscheinwerfer hinaustritt, ist es schlagartig
     vorbei mit dem prallen Leben. Dann erstarrt sie wieder in der gewohnten europäischen Konsenssklerose. Man sei, man habe, wichtige
     Schritte, guten Fortschritt, in guter Atmosphäre, unter Einbeziehung aller eine tragbare Lösung, wie Sie wissen, vielen Dank.
     Der Mensch Merkel wird wieder zur Kanzlerin, Journalisten werden wieder zu Stichwortnotierern, und Europa wird wieder zur
    
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