So nicht, Europa!
beschrieben. Sie sei eine Plattform, auf der die Mitgliedstaaten über ihre Handlungsoptionen entscheiden. Doch darauf, wie
dieser Ordnungsrahmen aussehen soll, kann der Wähler keinen maßgeblichen Einfluss nehmen. Über den Lissabon-Vertrag zum Beispiel
gab es in Deutschland nie eine inhaltliche Auseinandersetzung, die den Namen verdient hätte. Alle ernst zu nehmenden Parteien
(Union, SPD, Grüne und FDP) haben, mit Ausnahme einiger Renegaten innerhalb der CSU, den Vertrag kritiklos unterstützt. Weder
im Bundestags- noch im Europawahlkampf 2009 spielten die Änderungen, die er für das europäische Demokratiegefüge bedeuten
sollte, auch nur die geringste Rolle. Nicht einmal das Europaparlament selbst besitzt Einfluss auf die Gestaltung des »Ordnungsrahmens«.
Selbst wenn im Juni 2009 die Europäer entgegen aller Wahrscheinlichkeit eine Mehrheit von Lissabon-Gegnern nach Straßburg
gewählt hätten – über die Verfasstheit Europas hätten sie nichts mitzureden gehabt. Die Inkraftsetzung des Lissabon-Vertrages,
geschehen im Dezember 2009, war allein Sache der Mitgliedsländer. Dem Wähler bot sich letztlich keine Alternative.
Ein weiterer Unterschied zwischen der Staatspraxis des Föderalismus und der EU besteht darin, dass in Deutschland auf der
Ebene des Bundes darüber gewacht wird, dass die Länder ihre Kompetenzen nicht überschreiten. Über der Ebene Brüssel hingegen
steht kein Korrektiv. Im Gegenteil, sie ist überwölbt von einem oftmals gefährlich unkritischen Glauben an die höhere Richtigkeit
europäischer Integration. Kurz bevor er das Europaparlament verließ, um wieder in den Bundestag zu ziehen, hielt der grüne
Abgeordnete Cem Özdemir eine Abschiedsrede vor großem Publikum. Er habe in Brüssel immer gewusst, bekannte der Schwabe, dass
die Journalisten »unsere Verbündeten« seien. In Berlin sei das ganz anders. So kämpferisch. So antagonistisch. Für diesen
Vergleich bekam Özdemir tosenden Beifall. Auch der ein oder andere Journalist klatschte mit.
Merke: Nicht nur Politiker können sich in Brüssel fühlen wie im Landschulheim. Das lahme Interesse der Außenwelt an Europa
kann bei vielen, die hier wohnen, zu der Trotzreaktion führen, die wahre Pracht und Herrlichkeit überstaatlicher Gesellschaftssteuerung
erschließe sich eben nur Eingeweihten. Wer Europa nicht spannend finde, heißt es dann, der habe Europa eben nicht verstanden.
Solche Sprüche erinnern an die ungute griechische Weisheit »Herrschen heißt, die Macht eines Gottes zu besitzen«.
Eine solche Überheblichkeit lässt sich am besten aufrechterhalten, indem Kritiker zu Unmündigen erklärt werden. Eine eingeübte
Methode des E U-Establishments , Beschuss abzuwehren, besteht darin, Andersdenkende als Abweichler abzustempeln. Wer an der quasireligiösen Erkenntnis der
EU als Heilsbringerin der Menschheit zweifelt, setzt sich schnell Diffamierungen aus. Das kann die Entfremdung auf beiden
Seiten so weit treiben, dass Dynamiken entstehen, die in regelrechte Obsession (von Seiten der Kritiker) und Ansätze von Ketzerverfolgung
(von Seiten der EU) ausarten können.
Hans-Peter Martins Abgeordnetenbüro im Straßburger Parlament liegt ganz am Ende eines langen Ganges. Außenseitertum ist das
Markenzeichen des Österreichers geworden. In seinem ersten Leben war Martin Journalist, er schrieb unter anderem für den ›Spiegel‹
und verfasste den Bestseller ›Die Globalisierungsfalle‹. Später ließ er sich auf seiner eigenen Liste, der
Liste Martin
, ins E U-Parlament wählen. Seitdem setzt er alles daran, seinen Ruf alsNestbeschmutzer und Kollegenanschwärzer zu festigen. Er war es, der 2004 ein Team von ›stern TV‹ auf die Spur der Spesenbetrüger
setzte, die sich früh morgens am Freitag im Straßburger Parlament noch schnell per Unterschrift knapp 300 Euro Tagesgeld sicherten, bevor sie, den Rollkoffer schon im Schlepptau, ins Wochenende entschwanden. Die Filmaufnahmen von
E U-Parlamentariern , die angesichts der Kamera erschrocken die Hände vors Gesicht reißen und zurück in die Fahrstuhlkabine flüchten, haben das
Bild vom Straßburger Spesenrittertum nachhaltig geprägt.
In der Regalwand neben Martins Schreibtisch läuft ein Fernseher. Ein Nachrichtensprecher tönt in etwas höherer als angenehmer
Lautstärke ins Zimmer hinein. Martin stört das nicht. Er telefoniert, macht gerade einen Termin mit einem Kamerateam aus.
Gleichzeitig tippt er eine
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